Geschichte-Archiv
Wie Karl der Große mit dem „Heiligen Römischen Reich“ das finstere Mittelalter begründete
Sprachgeschichte: Vom Indogermanischen zum Deutschen
Ernst Moritz Arndt: Aufrufe zum Kampf gegen die Tyrannei
Der Dreißigjährige Krieg – Katastrophe der deutschen Geschichte
Leben im 12. Jahrhundert – Das Zeitalters von Friedrich I. Barbarossa
Freiherr vom Stein und die Deutsche Erhebung von 1812/14
Oswald von Wolkenstein und die Politik
Kaiser Maximilians I. Ritterroman „Teuerdank“
Ernst Moritz Arndts und die Deutsche Revolution von 1848
Venedig unter habsburgischer Herrschaft (1798 – 1866)
Das Westgotenreich unter König Leowigild (568 - 586 n.Chr.)
Zeittafeln zur deutschen Geschichte
Videofenster schließen
Tonabspieler schließen
Tonabspieler schließen
Oswald von Wolkenstein und die Politik   heute: Mittwoch, 11.12.2024

Spätmittelalter:  Ein Raub­rit­ter als be­gna­de­ter Selbst­dar­stel­ler



Oswald von Wolkenstein und die Politik



  1. Zum Begriff „Politik“ und zur Lage des Adels in der Zeit Oswalds von Wolkenstein
  2. Oswalds Stellung in der Landespolitik Tirols
  3. Oswalds „Tatmotive“ und seine Anschauungen zur Politik
  4. Zwei Lieder als persönliche Antworten auf politische Streitfälle

Der Dich­ter Os­wald (1376/78 - 1445) muß ein ziem­lich scham- und gewissenloser Mensch gewesen sein. Wir kennen seine Räubereien, seine Vergewaltigungen, Entführungen und sonstigen kriminellen Aktivitäten. Woher wir das alles wissen? Aus seinen eigenen Liedern! Viele von ihnen sind autobiographisch, quasi selbstreflektierend, allerdings weniger im nachdenklichen als eher im prahlerischen Sinne. Oswald war stolz darauf, ein Raubritter zu sein, der sich einfach nahm, was er haben wollte. Und wenn es mal nicht so lief, wie er sich das vorgestellt hatte, dann hatte er auch kein Problem damit, offen über Fehlschläge zu jammern.

Der Dich­ter Os­wald (1376/78 – 1445) muß ein ziem­lich scham- und ge­wis­sen­lo­ser Mensch ge­we­sen sein. Wir ken­nen sei­ne Räu­be­rei­en, sei­ne Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Ent­füh­run­gen und son­sti­gen kri­mi­nel­len Ak­ti­vi­tä­ten. Wo­her wir das al­les wis­sen? Aus sei­nen ei­ge­nen Lie­dern! Vie­le von ih­nen sind au­to­bio­gra­phisch, qua­si selbst­re­flek­tie­rend, al­ler­dings we­ni­ger im nach­denk­li­chen als eher im prah­le­ri­schen Sin­ne. Os­wald war stolz da­rauf, ein Raub­rit­ter zu sein, der sich ein­fach nahm, was er ha­ben woll­te. Und wenn es mal nicht so lief, wie er sich das vor­ge­stellt hat­te, dann hat­te er auch kein Prob­lem da­mit, of­fen über Fehl­schlä­ge zu jam­mern.


I. Zum Begriff „Politik“ und zur Lage des Adels in der Zeit Oswalds von Wolkenstein


Oswald von Wolkenstein (1377/78 - 1445)

Um dem konkreten Fall einen größeren Rahmen zu geben, möchte ich mich dem Verhältnis Oswalds von Wolkenstein zur Tiroler Politik zunächst aus der Ferne nähern, indem ich einen Satz von Eugen Thurnher, sozusagen als Vorverurteilung, die sich aber als unbegründet herausstellen kann, voranstelle:

„Wenn wir die Politik als das tätige Bemühen erkennen, einer klar umrissenen Gemeinschaft eine allgemein verbindliche Ordnung zu schaffen und zu sichern, so muß ihre* öffentliche Tätigkeit doch sehr fragwürdig bleiben.“ (1)

(* „ihre“, damit sind Oswald von Wolkenstein und Hugo von Montfort gemeint)

Darin klingt, wenn auch nicht direkt im pluralistischen Sinn, sondern die ständische Ordnung des 15. Jahrhunderts miteinbeziehend, der moderne Begriff vom Gemeinwohl an. Abgesehen von der kritischen Behauptung, Oswald und sein dichtender Adelskollege Hugo von Montfort hätten dieses Gemeinwohl verletzt, seien im Grunde Schädlinge an der Gesellschaft gewesen, worüber später zu sprechen sein wird, wirft Thurnhers Satz zwei wichtige Fragen auf.

Gab es im späten Mittelalter angesichts eines gegenüber heutigen Gegebenheiten dehnbareren Staatsbegriffs eine „klar umrissene Gemeinschaft“? Das „Römische Reich“, das Karl der Große im Jahr 800 durch sein Zweckbündnis mit einem Bischof von Rom eher zufällig von der Antike ins christliche Mittelalter herübertransformiert hatte (siehe hier), befand sich zu Oswalds Zeit in voller Auflösung. Die „Zwei-Schwerter-Lehre“ von Kaiser und Papst war nurmehr ein theoretischer Überbau, der machtpolitisch kaum noch funktionierte. Das Papsttum hatte seine geistliche Autorität über die europäische Christenheit durch die seit 1378 andauernde Kirchenspaltung weithin eingebüßt, sodaß es die Herauslösung christlicher Reformgruppen wie der Hussiten aus der einen christlichen Gemeinschaft nicht aufhalten konnte. Des Kaisers Oberhoheit über die weltlichen Belange des Reiches war ihrerseits durch Nebenbuhler, respektlose Bauernvereinigungen und Bedrohung von moslemischer Seite angeschlagen. Hinzu kam, daß sich Kaisertum und Papsttum schon seit dem Hochmittelalter in fortwährenden Revierkämpfen gegenseitig demontierten. Es scheint mir demnach schwierig, in staatlicher Hinsicht überhaupt von einer einheitlichen Gemeinschaft zu sprechen, zumal dieses kaum mehr organisierbare Reich in eine Unzahl von Sonderrechts- und Sprachräumen zerfiel. Selbst innerhalb der größeren Landesfürstentümer, zu denen Tirol seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zählte, waren Zugehörigkeitsfragen und politische Zuständigkeiten selten für längere Zeit eindeutig geregelt.

Auch in einem allgemeinen menschlichen oder christlichen Zusammengehörigkeitsgefühl kann die angeführte Gemeinschaft nicht bestanden haben in einer Zeit, da zwischen Rittern und Bürgern rechtlich klarer geschieden wurde als zwischen einem Bauern und einer Kuh. Bei allem bürgerlichen Selbstbewußtsein, das sich in den freien und reichen Handelsstädten wie Lübeck, Augsburg oder Venedig Bahn gebrochen hatte, und trotz erfolgreich bestehender Bauernrepubliken – die landesfürstlichen und fürstbischöflichen Territorien hatten ihre eigenen hergebrachten Gesetze, und die waren ständisch. Oswalds eigenes Benehmen gegen seine Bauern und die Behandlung, die ihm selbst durch Herzog Friedrich widerfahren ist, geben die beste Begründung dafür ab, warum auch von einer menschlichen ‘Gemeinschaft‘ im späten Mittelalter keine Rede sein kann.

Als nächstes ist an den zitierten Satz von Thurnher die Frage zu richten, um welche „allgemein verbindliche Ordnung“ es sich gehandelt hat, der Oswalds öffentliche Tätigkeit galt. Ich meine, es kann ihm dabei nur darum gegangen sein, die bestehende ständische Ordnung zu erhalten, bzw. stets „die Vorteile seines eigenen Standes zu wahren“ (2). Ich werde mich im dritten Teil dieser Arbeit genauer mit den politischen Zielen Oswalds befassen, hier aber die allgemeine Lage des Adels unter Herzog Friedrich IV. und König Sigismund darstellen.

Rechtlich und der politischen Funktion zufolge hatte sich die Stellung des Adels, soweit man ihn noch als einheitliche politische Gruppe ansehen kann, gegenüber der ,heilen‘ feudalen Welt des Hochmittelalters nicht sehr verschlechtert. Als Bedienstete, Beauftragte und Berater der Fürsten kamen noch immer vorwiegend Angehörige des adeligen Standes in Betracht, Bürgerliche bildeten in solchen Stellungen die Ausnahme (3). Desgleichen waren entscheidende Positionen bei Gerichten und anderen Verwaltungsorganen den Edelleuten vorbehalten.

Weniger erfolgreich hatten sich offenbar große Teile des Adels auf dem Gebiet der Wirtschaft gegenüber dem eben erst entstandenen Finanzbürgertum behaupten können. Wenninger führt beispielhaft die Finanzlage des typischen Kleinadeligen auf (4), die mit den Einkommensverhältnissen handeltreibender Bürger oftmals in keiner Weise mehr konkurrieren konnte. Nichtsdestotrotz hatte der standesbewußte Ritter Repräsentationspflichten nachzukommen, deren Kostenaufwand mitunter ruinös war. Auch im Falle finanzieller Überforderung mußte ein gewisser Lebensstil unbedingt beibehalten werden, denn leicht konnte man sonst seines adeligen Ansehens verlustig gehen und zum „armen Ritter“ werden (5). Die Teilnahme an Turnieren etwa war eine teure, für den echten Ritter aber unabdingbare Angelegenheit (6). Wer sich dabei über seine Verhältnisse verausgabte, „muoste da hin ze den Juden varn / si alle di da gevangen warn“ (7) oder seinen Adelskollegen Güter verpfänden. Solchermaßen verschuldet zu sein, womöglich gar Teile des repräsentativen Besitzes an Juden verloren zu haben, war dem Ansehen alles andere als zuträglich; nun brauchte es neue Anstrengungen, dem angeborenen Stand weiterhin gerecht zu werden.

Ursache der peinlichen Repräsentations-Zwickmühle, aus der sich Oswald zeitlebens durch rücksichtslose Transaktionen herauszuhelfen versucht hat, war vor allem die dünkelhafte Ablehnung des Händlertums beim Adel. Nicht auf Geschäftemacherei, sondern auf Grundbesitz und dessen Nutzen hatte adeliger Wohlstand zu beruhen. Vor diesem Hintergrund ist Oswalds Eingeständnis zu bewerten, er habe sich als Händler verdingt (8), sowie die Tatsache, daß er sich in einem zwanzig Jahre dauernden Streit verbissen um den Alleinbesitz von Hauenstein als seinem Adelssitz und um die dazugehörigen Güter als seine legitime Haupteinnahmequelle mühte.

Für den dritten wichtigen Aspekt adeligen Daseins neben dem gesellschaftlichen und dem wirtschaftlichen halte ich die Frage, was aus der Vorstellung vorn ,miles christianus‘ der Kreuzfahrerzeit geworden ist. Wenninger betont, die Fiktion ritterlichen Lebens sei bewahrt worden, es habe im 15. Jahrhundert gar eine Renaissance des Rittertums gegeben, wenigstens in Äußerlichkeiten (9). Oswald und seine Standesgenossen haben geminnt, turniert, sogar Kreuzfahrten unternommen (10), (fast) ganz wie in alter Zeit und wie sich selbst noch Kaiser Maximilian seine Gegenwart zurechtträumen würde. In Wirklichkeit war der Ritter gerade in militärischer Hinsicht und als wehrhafter Hüter der heiligen Stätten bedeutungslos geworden. Im heiligen Land gab es nichts auszurichten, da sich auch nach jahrhundertelangen christlichen Eroberungsversuchen die Wiege des Christentums in moslemischen Händen befand. Mittlerweile standen die Türken mitten in Europa, hatten das Reich von Konstantinopel jämmerlich zusammenschrumpfen lassen, ohne daß die kaiserlichen Ritterheere auch nur ihrer Übergriffe auf noch christliche Länder Herr zu zu werden vermochten.

Ebenso schwer wie der Verlust christlichen Bodens trafen den Ritterstand einige militärische Ereignisse, die geeignet waren, die Überalterung seiner Kampftechnik und mithin seines Ethos‘ vorn reitenden Einzelkämpfer zu demontieren: Nicht die hoch zu Roß sitzenden, rituell überrüsteten Edelleute würden 1477 die Schlacht bei Nancy gewinnen (11), sondern eine Horde rebellischer schweizer Bauern. Auch bei dem königlichen Feldzug gegen die Hussiten 1431, an dem Oswald vielleicht teilgenommen hat, genügten ritterliche Pracht und Eifer im rechten Glauben nicht mehr, um gegen einfaches Fußvolk aufzukommen. Und die Italienfeldzüge Ruprechts und Sigismunds führten vor Augen, was anstelle von Heldenmut für erfolgreiche kriegerische Unternehmungen nötig gewesen wäre: Geld (12). G.F. Jones hat festgestellt, daß Oswald in seinen Liedern keine der militärischen Katastrophen des Rittertums erwähnt, obwohl er an mehreren persönlich beteiligt gewesen war und auch andere Einzelheiten seiner Kriegserlebnisse durchaus zum besten gibt (13).

Aus heutiger Sicht müßte man im ganzen von einer ,Sinnkrise‘ sprechen, die den Adel in einer Zeit gesellschaftlichen, sozialen und militärischen Umbruchs, nämlich der heraufziehenden Neuzeit, vehement um die Wahrung seiner Position kämpfen ließ, wofür Oswald exemplarisch wäre; eine Rückprojektion solcher Erkenntnisse auf das Bewußtsein des Dichters, seiner Zeit- und Standesgenossen ist aber selbstverständlich unzulässig. Andererseits hängt an rückschauenden Erkenntnissen, an den daraus zu ziehenden Folgerungen (,Lehren‘) und am Bewußtsein von geschichtlicher Entwicklung unser Begriff von Politik: Politik ist tatsächlich, wie Thurnher voraussetzt, der Versuch, – unter Zuhilfenahme von Erfahrungen – eine gesellschaftliche Ordnung zu schaffen, die dem Wohl einer bestimmten Allgemeinheit, welche wohl nationalbegrenzter Natur sein müßte, dienen soll – heutzutage, und mit der Einschränkung, daß dies auch heute nur ein theoretischer Anspruch der Politik ist! Oswalds Zeit war nicht von einem solchen allgemeinen Anspruch wie dem ,Gemeinwohl‘ beseelt, sondern ihre Ordnung war gottgegeben. Ziel politischen Mühens war also nicht ein gesellschaftlicher Zustand, den man nach den Maßstäben der Menschenwürde und allgemeinen Wohlergehens ideal zu nennen hätte, sondern die Erhaltung der von Gott, warum auch immer, gewollten Ordnung. Insofern haben wir es mit völlig unterschiedlichen Auffassungen von Politik zu tun. Oswalds Lieder und Taten sollten nicht nach dem heutigen Begriff bewertet werden, vielmehr nach dem Maßstab einer Zeit, in der das höchste politische Ziel eines kaiserlichen Hauses die Steigerung seiner Hausmacht war.


II. Oswalds Stellung in der Landespolitik Tirols

Nachdem unter ,Politik‘ vor allem der Kampf des Adels um die eigene gesellschaftliche Stellung, um Teilhabe an der Macht über die anderen Stände zu verstehen ist, erst in zweiter Linie die Vertretung weltanschaulicher Positionen, soll es mir hier zunächst um die langwierigen und zähen politischen Aktivitäten gehen, mit denen Oswald seinen Aufstieg zum Tiroler Landherrn (14) erstrebt hat. Durch Ehrgeiz und Unnachgiebigkeit hat er sein persönliches politisches Ziel gegen Ende seines Lebens noch erreicht. Dabei hatte er durch seine erbrechtliche Benachteiligung als Zweitgeborener durchaus nicht die besten Aussichten gehabt: Wohl gab es von Seiten der Mutter und des Vaters allerhand zu erben, aber es wurde in Tirol und in der Familie Villanders-Wolkenstein üblicherweise nach habsburgischern Vorbild ,ungeteilt‘ vererbt; aus der Erbschaft konnte auch den jüngeren Söhnen etwas zukommen, aber nur nach Gutdünken des ältesten, der alleiniger Lehensträger der elterlichen Besitzungen wurde. Unter diesen erbrechtlichen Verhältnissen in Verbindung mit der anfänglichen Unnachgiebigkeit seines älteren Bruders Michael hat Oswald von Wolkenstein immerhin bis zu seinem 30. Lebensjahr zu leiden gehabt.

Ein anderes Hindernis, das sich seinem Aufstieg vom besitzlosen Ritterbürtigen zum landespolitisch einflußreichen Landherrn zeitweilig in den Weg zu stellen schien, war der Aufrieb zwischen den Interessen des habsburgischen Herzogs von Tirol, Friedrichs IV., und denen des Königs aus dem Hause Luxemburg, Sigismunds. Sigismund suchte im Zuge seiner Reichspolitik, die Autorität des Königtums gegenüber den Landesfürsten wiederherzustellen, sich den Ehrgeiz provinzieller Kleinadeliger vom Schlage Oswalde gegen die jeweiligen Herzöge zu Nutze zu machen. Der Herzog seinerseits wollte sich gegenüber dem König vollends emanzipieren und gleichzeitig zu völliger Kontrolle über sein Territorium gelangen, wozu also aus doppeltem Grunde der landständige Adel niedergehalten werden mußte. Schließlich waren Oswalds letzte anderthalb Jahrzehnte weitgehend von der Schwierigkeit beherrscht, daß „erst der Tod seines nachtragenden Landesfürsten, 12 Jahre nach der demütigenden Unterwerfung unter dessen Gnade, Oswald erlaubt, seine Position auszubauen“ (15). Trotz seiner inzwischen gesicherten wirtschaftlichen Lage (16), die ihm nunmehr ein standesgemäßes ritterliches Leben gestattete, wirkten gewissermaßen noch die politischen Streiche nach, die sich Oswald in den 1420er Jahren auch aus wirtschaftlichem Druck heraus geleistet hatte.

Oswalds Starthemmnisse milderten sich bald ab, indem sein Bruder Michael beim Herzog eine steile Karriere machte, was jenen offenbar in Gönnerlaune gegen seine jüngeren Brüder versetzte: Oswald und Leonhart bekamen jeweils einen kleinen Teil aus dem Grundbesitz der Eltern zur persönlichen Nutzung zugeteilt, sodaß sie sich nun immerhin im Hinblick auf die wichtige Inhaberschaft einer Burg samt abhängiger Bauern als gültige Rittersleute betrachten konnten (17). Michaels Großzügigkeit war allerdings nur so weit gegangen, lediglich die Brixener Bischofslehen abzutreten, während er die wichtigeren landesfürstlichen Lehen für sich behielt. Staatsrechtlich demnach nur Gotteshausmann und nicht Landesritter oder gar reichsunmittelbar, konnte Oswald vorläufig allenfalls in die vom Bischof zu vergebenden Stellungen aufsteigen. Diese aber konnten auf Dauer weder seinem politischen Ehrgeiz noch seinem Bedarf an Bargeld gerecht werden, so daß „er sich entschloß, anderwärts sein Glück zu suchen“ (18).

„Glück“ hat ihm die Verbindung zu König Sigismund allerdings kaum gebracht, wenn man davon absieht, daß die Erlebnisse während des Konstanzer Konzils und der Reisen nach Frankreich, Spanien und England ziemlich glücklich gewesen sein mögen und in Gestalt vieler Lieder glückliche künstlerische Früchte getragen haben. Zwar gelang es Oswald 1415, als „Rat und Diener des Königs“ angenommen zu werden, aber nach der Ofenheizen-Posse, mit der er sich eine Audienz beim König erschlich (19), und nach dem Schweigen der Quellen über das Dabeisein Oswalds bei der Europareise des Königs zu schließen, kann seine Stellung keine besondere politische oder persönliche Nähe zum König bedeutet haben: „Oswald war offensichtlich nur ein untergeordneter ,Rat und Diener‘ des Königs.“ (20) Die ungleiche Beziehung zwischen dem Tiroler Kleinadeligen und dem Herrn des Reiches endete auch bereits 1418 fürs erste, ohne bis dahin für Oswald politisch oder finanziell profitabel gewesen zu sein (21). Erst in den Jahren nach einer neuerlichen Begegnung 1430, als sich Oswald ohnehin in keiner unmittelbaren Bedrängung mehr befand, ließ Sigismund seinem Diener einige politische Ehren zukommen, Aufnahme in den ,Drachenorden‘ und Ernennung zum freien Reichsritter.

Statt daß die Jahre beim König Oswalds Position in Tirol förderlich gewesen wären, brachten sie letzten Endes sogar eher Schaden ein; und zwar in Gestalt der Verstrickung in die Auseinandersetzungen, die sich seit mehreren Jahren zwischen Sigismund und Herzog Friedrich IV. abspielten. Aus der Sicht Oswalds und der übrigen Tiroler Adelsbündner mag es so ausgesehen haben, als habe man in Sigismund dank dessen Feindschaft zu Friedrich einen Verbündeten auch im Sinne der eigenen landesinternen Interessen. Die einfache Rechnung der Rottenburger, Starkenberger und Wolkensteiner, daß man mit Hilfe des Königs des gemeinsamen Gegners Herr werden könne, konnte aber nicht aufgehen, weil das Pferd in Wirklichkeit umgekehrt aufzuzäumen war: Der König war nicht die mächtige Trumpfkarte des rebellischen Tiroler Adels, sondern „für den König waren Leute wie Oswald und sein Bruder gewissermaßen nur Bauern im Schachspiel, die fallengelassen wurden, wenn die Großen sich einigten“ (22). Für Sigismund handelte es sich ja nicht darum, aus Gerechtigkeitsgründen in landesinnere Streitigkeiten einzugreifen, vielmehr allenfalls, den Herzog als seinen reichspolitischen Gegenspieler (vor allem in Bezug auf sein Venedig-Problem) zu schwächen, und dazu war ihm nahezu jedes Mittel recht. Trotzdem ließen sich Oswald und seine Standesgenossen mehrfach auf abenteuerliche Fehden gegen ihren Landesfürsten ein, gestützt auf königliche Truppenversprechungen, die niemals eingehalten wurden:

„Der aufsässige Tiroler Adel erlitt u.a. deswegen die endgültige Niederlage, weil Sigmund ihn immer mehr fallen ließ, die Sache an Albrecht abschob und dieser keineswegs gewillt war, deswegen Friedrich ernstlich anzugreifen.“ (23)

Ihm persönlich und den Gebrüdern Ulrich und Wilhelm von Starkenberg trugen die Greifenstein-Affäre und die augenscheinliche Konspiration mit dem König die lebenslange Feindschaft Herzog Friedrichs ein.

Was Tirol zu Oswalds Lebzeiten unter Friedrich erlebte, war der Sieg des Territorialfürstentums über den freien Adel (24). Hatten Fürsten in Tirol bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts kaum eine Rolle gespielt, so nahm die Autorität der Grafen bzw. Herzöge seit der Übernahme durch das Görzer Grafengeschlecht stetig zu. Nach dem Aussterben der Görzer geriet das Land sogar zum Objekt der Hausmachtspolitik zwischen den Luxemburgern, Wittelsbachern und Habsburgern. Bei Oswalds Geburt lag der Machtantritt des Hauses Österreich erst anderthalb Jahrzehnte zurück und „mochte den Zeitgenossen als nicht unbedingt dauerhaft erscheinen“ (25). Herzog Friedrich IV. von Österreich aber sollte für die Dauerhaftigkeit sorgen, indem er gegenüber dem heimischen Adel und auch gegenüber seinen eifersüchtigen Anverwandten nach bedingungsloser Souveränität strebte. Bei der Unterdrückung der Wolkensteinisch-Starkenbergischen Opposition, die alte tirolische Adelsrechte zu verteidigen suchte, ließ er sich weder vom Einspruch Sigismunds noch von der Unterstützung adeligen Gegendrucks seitens der Herzöge Ernst und Albrecht beirren. Ein „hergebrachtes Widerstandsrecht“ (26) ließ er nicht gelten, stattdessen betrachtete er den Versuch seiner Wahrnehmung als Rebellion gegen die Ordnung, die er bis zur Unterwerfung der Aufrührer kompromißlos bekämpfte. Die Brüder Starkenberg unterwarfen sich 1425, Oswald von Wolkenstein ein Jahr darauf.

Durch seine beharrliche Weigerung, den Kampf gegen Friedrich aufzugeben, bei dem er mittlerweile zum Einzelkämpfer geworden war, ehe er nicht völlig geschlagen und gedemütigt wäre, verdarb sich Oswald jede Möglichkeit, am Hof dieses Herzogs eine Anstellung zu erhalten. Trotzdem brachte er es immerhin, sozusagen ersatzweise, zum Berater der Grafen von Görz und des Bischofs von Brixen, Ulrich Putsch, der offenbar weniger nachtragend als Friedrich war; Oswalds Streit mit ihm wird im letzten Teil meiner Arbeit anklingen. Nach dem Tod Friedrichs konnte er sich dann noch für die letzten sechs Jahre seines Lebens in die ,große Politik‘ Tirols einschalten, zumal er durch das Ableben Michaels von Wolkenstein 1443 zum selbständigen Lehensträger aller Wolkensteinischen Besitzungen, also zum eigentlichen ,Landherrn‘ avancierte. Aus dem „notorischen Störenfried“ (27) wurde zuletzt so etwas wie ein biederer Landadeliger, dessen Sinnen es war, seinem rechtmäßigen Landesherrn zu dienen.


III. Oswalds „Tatmotive“ und seine Anschauungen zur Politik

Der politische Lebenslauf Oswalds von Wolkenstein enthält einen inneren Widerspruch, der die Logik bzw. die Konsequenz seines Handelns sehr fragwürdig erscheinen läßt. Einerseits faßt Schwob – richtig, wie ich finde – Oswalds Absichten folgendermaßen zusammen:

„Der brennende Ehrgeiz, der Oswald von Wolkenstein veranlaßt hat, keine Mühe und kein Hindernis zu scheuen, wenn es um seinen Aufstieg in der sozialen Rangordnung ging, kann nicht ohne Niederschlag in seinen Liedern geblieben sein. Tatsächlich scheint mir sein gesamtes künstlerisches Vermächtnis, die Anlage von Liederhandschriften an sich und jedes einzelne Lied für sich ursprünglich Propaganda für ,ich Wolkenstein‘ gewesen zu sein.“ (23)

Mit dieser Feststellung steht der Vorschlag von Jones im Einklang, die in vielen Liedern geschilderten ,Narreteien‘ Oswalds als Ablenkung von seinen wirklichen Machenschaften zu betrachten (29). Andererseits bemerkt Mayr – ebenfalls zutreffend! – Oswald sei kein „Realpolitiker“ gewesen, habe er es doch zu seinem Verhängnis mit den Starkenbergern auch noch nach deren endgültiger Niederlage gegen Herzog Friedrich gehalten (30). Hilfsweise ist hier wiederum Schwobs Meinung (aus einem anderen als dem eben zitierten Aufsatz!) anzuführen, Oswald habe prinzipiell für die Wahrung adeliger Standesrechte gekämpft, „auch zu seinem eigenen Schaden“ (31). Ferner ist es eine Erkenntnis von Schwob, die den Widerspruch bei Oswalds politischem Treiben auf die Spitze treibt, daß nämlich der Wolkensteiner selbst im Nachhinein seine Verbindung zu den Starkenbergern zu vertuschen versuchte, indem er sich im außerliterarischen Bereich als Quellenfälscher betätigte (32).

Ursache des Schwankens zwischen opportuner Loyalität und trotziger Aufsässigkeit gegen den Landesfürsten scheint mir der Widerstreit der beiden elementaren politischen Prinzipien zu sein, die ich im ersten Teil herauszustellen versucht habe; des ‘brennenden adeligen Ehrgeizes‘ auf der einen Seite und des Bewußtseins über die von Gott gesetzte und daher unverrückbare gesellschaftliche Ordnung auf der anderen. Oswalds Liedern sind immerhin einige Erkenntnisse über seine Weltsicht und politische Ausrichtung abzugewinnen, wobei allgemein zu bemerken ist, daß „die größere Nähe zu den Entscheidungen zu einer erkennbaren Verengung des Blickes führt“ (33). Die gottgewollte ,Platonische Dreiteilung‘ der Gesellschaft in Nährstand, Wehrstand, Lehrstand (gebûre, ritter, pfaffen) bildet das Fundament seiner theoretischen Äußerungen. In ihrem Sinn betraut Oswald die Stände mit bestimmten ,natürlichen‘ Aufgaben, so die Bauern (und Bürger), „durch ihre Arbeit für den Unterhalt der beiden anderen Stände zu sorgen“ (34). Entsprechend haben bei ihm auch die ersten beiden Stände ihre festen Dienste an Gott und den Untergebenen zu versehen:

der gaistlich ist also bedacht,
das er sol bitten tag und nacht
für die zwen taile gottes kraft;
und streiten sol die ritterschaft
hert für die andern vorgenant (35)

Und der Kaiser erhält seine besondere Zuteilung:

O kaiser schierm mit deinem swert
und wer zu dem gesegnot ist,
das recht und den gelauben wert
gewaltiklich zu aller frist.
Die witwen, waisen, arm und reich
beschützt, auch halt euch in der hüt,
das man euch selber nicht enzeich,
des icht berür der eren teich,
ee so vergiesst eur aigen blüt. (36)

Das ist bemerkenswert, weil beide politischen Grundlinien miteinander verbunden werden: das triefende Klischee vom verlängerten Arm Gottes, der Witwen und Waisen schützt, und gleich darauf der in Anbetracht der Zeit ungemein nützliche Rat, stets auf der Hut vor Mördern zu sein. Hier haben wir eine Zusammenfassung dessen, worin im Spätmittelalter Politik bestand. Oswald weicht in dieser Hinsicht nicht von seinen Zeitgenossen ab, sondern bestätigt individuell in ausgesprochen konservativer Weise „überpersönliche Entwicklungen“ (37). Will man einen solchermaßen konventionellen Standpunkt nicht rundweg als unpolitisch zurückweisen, so ist also die Frage, ob Oswald nur ein Mann der Politik, oder auch ein politischer Mann gewesen sei (38), eindeutig zu bejahen. Dies gilt meiner Ansicht nach trotz der scheinbar sehr lückenhaften Wahrnehmung reichspolitischer Ereignisse, trotz der weitgehenden Abwesenheit ,großer Themen‘ in den Liedern, die Thurnher festgestellt hat; allerdings ist ihm bezüglich des verengten Blickes ob dieser Gründe durchaus zuzustimmen.

Oswalds Ordnungsbewußtsein setzt sich auf landespolitischer Ebene, die durch kleinadelige Abkunft ja eher sein Metier war als die Geplänkel zwischen Kaisern und Päpsten, entschieden fort. Grundsätzlich erkennt er Funktion und Richtigkeit des Territorialfürstentums an, was sich darin ausdrückt, welche Ämter er der Ritterschaft am Hofe eben solcher Fürsten zugedacht hat:

Ain fürst in seinem hof und lant
sol haben rete, die da hand
göttlich gwissen, edel und weis (39).

Darin ist auch das Ziel von Oswalds eigenem Streben zu erblicken: es am Fürstenhof zu etwas zu bringen. Warum also führte Oswald seinen aussichtslosen Kampf gegen Herzog Friedrich, den er erstens offensichtlich als legitimen Landesherrn ansehen mußte und von dem er sich, zweitens, Ämter und Würden zu versprechen hatte? Sein Benehmen widersprach beidem in hohem Grade! – Abgesehen davon, daß Oswald selber sich wahrscheinlich in keinem schwerwiegenden Widerspruch gesehen hat, weil er nicht von überragender taktischer Weitsicht beseelt war, stattdessen mehr von jähzornigem Temperament, weil er zudem keine Fehde um Grundsätze, sondern um Besitz und Macht führte, scheint mir nur eine Deutung als Auflösung des eingangs angenommenen Konflikts sinnvoll: Gerade aus kleinadeliger Position heraus mußte Einfluß auf die Politik in Tirol schwer erkämpft werden (40). Der Aufstieg vom ritterlichen Ministerialen des Brixener Bischofs zum Landherrn war durch Tüchtigkeit oder Mangel an Skrupeln möglich, wurde aber unter Friedrich IV. dank dessen ausgreifender Herrschaftsansprüche erschwert. Dieser Herzog suchte auch Rechtsbereiche und Zuständigkeiten an sich zu reißen, in denen der Adel zuvor gewissermaßen unter sich gewesen war, wo man Streitigkeiten auch ohne fürstliches Gutdünken hatte regeln können. Dem Gewaltmenschen Oswald von Wolkenstein war die adelsinterne Fehde um Machtpositionen angemessener als die sich zunehmend festfügende fürstliche Rechtsordnung.

So steigerte er sich, anfangs aus Furcht, den Anschluß an seinen geburtsmäßigen Stand nicht zu finden, später aus Verzweifelung über politische Fehlschläge, in die Gegnerschaft zum Landesherrn hinein. Überhaupt darf wohl das emotionale Moment als Beweggrund für manchen hals­brecheri­schen Eingriff Oswalds in die hohe Tiroler Politik nicht vernachlässigt werden. Ich glaube, daß die beiden im folgenden anzusprechenden Lieder meine Annahme bestätigen können.


IV. Zwei Lieder als persönliche Antworten auf politische Streitfälle

„Tatsächlich war Oswald so kontrastreich wie die verschiedenfarbigen Strümpfe, die er auf dem Bild in Handschrift A trägt.“ (41) Dafür wie auch für die Spannweite seiner Emotionalität bei der literarischen Widerspiegelung politischer Niederlagen möchte ich ein Beispiel geben, indem ich KL 85, „,Nu huss!‘ sprach der Michel von Wolkenstain“, und KL 104, „Von trauren möcht ich werden taub“, einander gegenüberstelle. Sie gehen auf verschiedene Episoden aus Oswalds Leben zurück, bei denen er es auch mit unterschiedlichen Gegnern zu tun hatte; beide aber weisen eine vollkommene Ich-Bezogenheit auf, die für Oswalds politische Dichtung charakteristisch ist.

Norbert Mayr hat im Zusammenhang mit seiner spektakulären Neudatierung des ,Greifensteinliedes‘ (KL 85) festgestellt (42), daß Gliederung und Einzelheiten des Liedes mit den historischen Vorgängen, soweit aus anderen Berichten nachvollziehbar, genau übereinstimmen. Der Anerkennung von Oswalds erzählerischer Wahrhaftigkeit kann noch die berechtigte Meinung von Jones hinzugefügt werden, lyrisches und historisches Ich deckten sich in dem berühmten Schlachtlied. Aber: Der Dichter stellt die ganze Angelegenheit, die Feindschaft zu Herzog Friedrich und die Verteidigung von Burg Greifenstein im November oder Dezember 1423, als Sache der Wolkensteiner hin! Das entspricht genau der summarischen Feststellung von Jones, „während Oswald gewöhnlich die reine Wahrheit erzählt, sagt er nicht immer die volle Wahrheit“ (43). Es wird die Tatsache nicht geleugnet, daß Greifenstein eine Starkenbergische Burg war, zumal dank der ausdrücklichen Nennung der Burg dem zeitgenössischen Publikum die Verhältnisse klar gewesen sein dürften, aber der Wortlaut selbst, die Weglassung der übrigen beteiligten Adelsbündner, erweckt den Eindruck, die vorgeführten Heldentaten gingen allein auf das Konto der Familie Wolkenstein. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Lied wohl zeitweise zu volksliedhafter Verbreitung gelangt ist (44), also nicht angenommen werden kann, Oswalds Retuschierung sei auch späterhin allen Sängern oder Hörern bewußt geworden. Schwob sieht in ihr wiederum einen Versuch, das unselige Kapitel der Verbindung zu den Starkenbergern zu tilgen (45). Das mag sein, denn dazu paßt, daß „,Nu huss! sprach der Michel von Wolkenstain“ in die Handschrift A nicht aufgenommen worden ist, um „nicht noch Öl in das Feuer zu gießen“(46).

Immerhin hat Oswald das Lied aber geschrieben, und zwar mit unerhörtem dichterischen Feuer und unter Beigabe einer offenbar ziemlich aufregenden Musik. Das Gemetzel hebt mit begeisterten Schlachtrufen der Wolkensteiner an (Nu huss!… So hetzen wir!… Za hürs!) (47) und nimmt mit Feuersbrunst und wilder Flucht einen außerordentlich heftigen Verlauf, was der Dichter mit Schadenfreude kommentiert: „do wurd wir freudenreich.“ Die dritte Strophe kommt als ein Fest der Rache daher, mit der man es dem Tyrannen Friedrich endlich gezeigt hat: „also well wir bezalen, herzog Fridereich!“ bei dieser Zeile stelle ich mir die Betonung auf „also“ und den Herzog gewissermaßen als Angeredeten vor, wie es Kleins Zeichensetzung ja auch nahelegt; das würde den triumphierenden Charakter der Strophe am besten zur Geltung kommen lassen.

Im weiteren Verlauf des Liedes delektiert Oswald sich an einer Zerstörungsorgie, die historisch weder ihm noch seiner Partei außer einem heil überstandenen Revanche-Abenteuer etwas eingebracht hat. Es ist natürlich anzunehmen, daß die rebellischen Adelsbündner sich von einem Sieg über Friedrich auch in politischer Hinsicht etwas versprochen haben mochten, aber was aus dem Lied vor allem spricht, ist persönliche momentane Genugtuung. Es beweist eine starke innere Beteiligung Oswalds während der Vorgänge selbst, die über bloße politische Spekulation, die ein solches Abenteuer eigentlich nur bedeuten konnte, weit in den emotionalen Bereich hinausgreift. Das Lied handelt von ,edler‘ Wut auf den Herzog, von Oswalds Mut der Verzweiflung, vom Hineinsteigern in empörerische Inbrunst, und besonders deshalb, meine ich, stellt der Dichter sich und seine Brüder in den Mittelpunkt – auch wenn es dem wieder abgekühlten Politiker später geraten schien, seine Ereiferung nicht an die große Glocke zu hängen.

Haben wir Oswald von Wolkenstein in KL 35 als verhärteten Trotzkopf gesehen, so stellt er sich in KL 104 von einer ganz anderen Seite dar: als jemanden, der sich selbst bemitleidet. Von dem Streitfall, auf den mehrfach angespielt ist, soll hier nicht ausführlich erzählt werden, nur soviel, daß Oswald zu denen gehört hatte, die im Oktober 1429 den Bischof von Brixen, Ulrich Putsch, überfallen, gefangengesetzt und erpreßt hatten. Wir können nicht klar erkennen, weshalb er sich an der Aktion beteiligte, wissen aber, daß ihm seine Einmischung vom Bischof übelgenommen wurde. Das ist jedenfalls einer der Gründe, warum wir ihn in einer solchen Stimmung antreffen: „Von trauren möcht ich werden taub.“

Beim ersten Hinsehen gewinnt man von der Anfangsstrophe den Eindruck, der böse Winter mit seinem groben Gesicht („Kellt, reiff und grossen snee / den bach verdackt mit eise“) habe es auf den armen kälteempfindlichen Dichter abgesehen, also eine der üblichen literarischen Winterklagen. Gemeint ist aber auch, wie dann die zweite Strophe offenbart, der geschlagene Aufrührer, der sich jetzt kleinlaut in der winterlichen Einöde verstecken muß: „Winderklaub“ ist gleichzeitig (mit seiner synonymischen Bedeutung einfach des Winters) ein leibhaftiger Spitzel des Bischofs, und die Kälte, mit der Oswald in Brixen geschnitten würde, wollte er sich dort blickenlassen, rührt nicht allein von der winterlichen Jahreszeit her („Nu mir der pawer ist gevar / und auch gen brixsen nicht wol tar“). Wahrlich eine traurige Lage, auf Burg Hauenstein in der Falle zu sitzen! Dann macht der arme Sünder so etwas wie einen Erklärungsversuch:

dorumb das ich erzürnet han
ain klainen ungenant
Mit sinem smalen widerdriess,
den ich bot dem geraden füss,
so reut mich klain, wes ich dem gan,
der mir den schimpf da wandt,

das ist das Eingeständnis einer allerdings nur kleinen Verfehlung, die dennoch Reue zeitigt. Statt diesen Gedanken weiter zu verfolgen und die Schuld an seiner Lage bei sich selbst zu suchen, bäumt er sich nun aber gegen den Herrn „ungenant“ auf, der niemand anderer als Ulrich Putsch sein kann, indem er ihm seinerseits durch Verunglimpfung die Ehre abzuschneiden versucht:

Der fräveliche schlupf
dem risen wer geweret,
den er zu seiner metzen tüt,
und alle gassen keret
mit ainem mantel. …

So macht der Dichter seinem realen, ganz unpoetischen Ärger Luft. Und nachdem der Bischof solcherart heruntergeputzt, auf seine wahre Größe („Perzli,Üli!“) reduziert ist, sieht auch die strittige Sache (48) schon anders aus:

Ich wond, mein sach wer richtig ganz
neur an der treu so lag der stoss
… das richt man auff ain stüli,
schon mit der neuen hand beluckt
nach welischer vernufft.

Als wäre es Oswald beim Schreiben wie ein Geistesblitz durch den Kopf geschossen: ich bin ja betrogen worden! Hier stilisiert sich der anfangs noch Geknickte zu einem Opfer politischer Intrige, das ganz zu Unrecht in Isolation und Verfolgung geraten ist. In der vierten und letzten Strophe aber gewinnt wieder das „trauren“ die Oberhand, wehleidiges Klagen über die verfahrene Situation und sonstige drückende Sorgen, sozusagen über die Ungerechtigkeit der Welt. Es muß Oswald wirklich schlecht gegangen sein, daß er am Ende sogar Friedrich, seinen Erzfeind aus „,Nu huss! , sprach der Michel von Wolkenstain“, rhetorisch um Hilfe angeht:

wers alles wil besorgen,
das tü mein herr von Österreich
umb seinen schatz verborgen.

Ich komme am Schluß zu dem Verdacht, es ließe sich anhand der Lieder besonders im Bereich des Psychischen noch manches über Oswald von Wolkenstein herausfinden, was neben anderen Erkenntnissen wohl auch Aufschluß über innere Anstöße seines politischen Tuns im einzelnen erbringen würde – obwohl Jones’ geistreiche Beobachtung einer solchen Möglichkeit zu widersprechen scheint:

„Oswald war ‘außengeleitet’ und brauchte den Kontakt mit und die Anregung durch andere Menschen. Das erklärt, warum die Philosophie nie kam, ihn im Gefängnis zu trösten, wie das bei dem mehr innengeleiteten Boethius der Fall war.“ (49)

 

Anmerkungen

Alle nachfolgend vorkommenden Autorennahmen, Kurztitel der Werke und Seitenzahlen beziehen sich auf das nachstehende Verzeichnis der benutzten Literatur.

(1) Thurnher, S. 253
(2) Zitat Schwob, Landherr, S. 24
(3) Als eine solche Ausnahme ist allerdings gerade für Oswalds Zeit ein Kanzler Kaiser Sigismunds zu nennen, der bürgerliche Kaspar Schlick.
(4) siehe Wenninger, S. 136 ff.
(5) Aus dieser Angst heraus, so nimmt Schwob, Lyrik, S. 159, an, hat Oswald den ,Kleinodien-Raub’ unternommen.
(6) vgl. Wenninger, S. 142/43
(7) zitiert nach Wenninger, S. 143
(8) nachzulesen in KL 18 „Es fügt sich“
(9) siehe Wenninger, S. 134
(10) vgl. Kühn, S. 36 ff. und 88 ff., über Litauerreisen und Pilgerfahrten
(11) Herzog Karl der Kühne von Burgund, Vorbild des „letzten Ritters“ Maximilian, sollte in dieser Schlacht seinen symbolträchtigen Tod finden.
(12) Ein entsprechendes Sprichwort wurde gegen Ende des 15. Jahrhunderts von einem italienischen Condottiere gewissermaßen nachgereicht.
(13) vgl. Jones, S. 302
(14) Hier und im folgenden berufe ich mich auf die feinsinnige Unterscheidung Schwobs, Landherr, S. 3, zwischen besitz- und einflußarmem Geburtsadel und der zu Einfluß und Ansehen aufgestiegenen Landherren-Schicht.
(15) Schwob, Lyrik, S. 164
(16) dank des Alleinbesitzes von Hauenstein
(17) Den Besitz mindestens einer Burg stellt besonders Wenninger als unerläßliches Symbol adeliger Landherrlichkeit heraus.
(18) Schwob, Lyrik, S. 161
(19) nachzulesen in KL 55 „Wes mich mein bül ie hat erfreut“; vgl. Mayr, S. 416/17
(20) Baum, S. 205
(21) Eher im Gegenteil: Baum berichtet S. 206, Oswald sei vom König enttäuscht gewesen, außerdem habe er ihm noch 3000 Gulden für seine Dienste geschuldet.
(22) Baum, S. 206
(23) Kramer, S. 30
(24) vgl. Baasch / Nürnberger, S. 21
(25) Baasch / Nürnberger, S. 26
(26) vgl. Schwob, Landherr, S. 5
(27) Schwob, Landherr, S. 21
(28) Schwob, Lyrik, S. 164
(29) vgl. Jones, S. 286
(30) Mayr, S. 416
(31) Schwob, Landherr, S. 24
(32) vgl. Schwob, Lyrik, S. 170
(33) Thurnher, S. 250/51
(34) Schwob, Landherr, S. 22
(35) KL 112 „Mich fragt am ritter“, Zeilen 167 - 171
(36) KL 113 „Ir bäbst, ir kaiser“, Zeilen 19 - 27
(37) vgl. Thurnher, S. 254
(38) so gestellt von Thurnher, S. 253
(39) KL 112, Zeilen 303 - 305
(40) vgl. Schwob, Landherr, S. 7
(41) Jones, S. 301
(42) siehe Mayr, S. 414/15
(43) Jones, S. 302
(44) vgl. Marold, S. 342
(45) vgl. Schwob, Lyrik, S. 169 - 171
(46) Mayr, S. 417
(47) Alle folgenden Zitate Oswalds stammen der Reihe nach aus KL 85 und KL 104.
(48) Um welche es sich genau handelt, ist, wie gesagt, nicht bekannt; Kühn nimmt an, Oswald habe eine „alte Rechnung“ mit Ulrich Putsch zu begleichen gehabt, und da habe er den Streit zwischen Domkapitel und Bischof als willkommene Gelegenheit beim Schopf ergriffen.
(49) Jones, S. 288

 

Literaturverzeichnis

  • Karen Baasch / Helmuth Nürnberger, Oswald von Wolkenstein, Reinbek bei Hamburg 1986 (Rowohlt-Monographie)
  • Wilhelm Baum, Kaiser Sigmund von Luxemburg und Oswald von Wolkenstein; in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, Bd. 4 1986/87
  • George Fenwick Jones, „Dichtung und Wahrheit“ in den Liedern Oswalds von Wolkenstein; in: Oswald von Wolkenstein, hg. von Ulrich Müller, Darmstadt 1980
  • Karl Kurt Klein (Hg.), Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, 2. Aufl., Tübingen 1975
  • Hans Kramer, Die Grundlinien der Außenpolitik Herzog Friedrichs IV. von Osterreich-Tirol in seiner späteren Regierungszeit; in: Tiroler Heimat, Bd. 17 1953
  • Dieter Kühn, Ich Wolkenstein – Eine Biographie, erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1988
  • Werner Marold, Kommentar zu den Liedern Oswalds von Wolkenstein, Diss. Göttingen 1926
  • Norbert Mayr, Die Belagerung von Greifenstein fand nicht statt – Das Greifensteinlied Oswalds von Wolkenstein in neuer Sicht; in: Gesammelte Vorträge der 600-Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein in Seis am Schlern 1977, Göppingen 1978
  • Anton Schwob, Oswald von Wolkenstein – Eine biographie, 3. Aufl., Bozen 1977
  • Anton Schwob, Lyrik im Dienst der Politik? ; in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch NF 19, 1978
  • Anton Schwob, Landherr und Landesherr im spätmittelalterlichen Tirol – Oswalds von Wolkenstein Ständepolitik; in: Gesammelte Vorträge der 600-Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein in Seis am Schlern 1977, Göppingen 1978
  • Otto Stolz, Geschichte des Landes Tirol (erster Band), Innsbruck 1955
  • Eugen Thurnher, Die politischen Anschauungen des Hugo von Montfort und Oswald von Wolkenstein; in: Gesammelte Vorträge der 600-Jahrfeier Oswalds v. Wolkenstein in Seis am Schlern 1977, Göppingen 1978
  • Burghart Wachinger (Hg.), Auswahl der Lieder Oswalds von Wolkenstein, Ebenhausen 1964 (Reclam-Ausgabe)
  • Markus J. Wenninger, Die Finanzkraft des Adels und die Finanzierung außergewöhnlicher Ausgaben mit besonderer berücksichtigung Tirols um 1400 – Mit Anmerkungen zu Oswalds Biographie; in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, Bd. 2 1982/83

B.G. Niebuhr

 


Autor:
Datum/Letzte Bearb.: 1990/2022