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Venedig unter habsburgischer Herrschaft (1798 – 1866)   heute: Mittwoch, 11.12.2024

Neuzeit:  Venedigs langer Abschied von der Republik



Venedig unter habsburgischer Herrschaft 
(1798 - 1866)



  1. Vorwort
  2. Rückblick auf den Niedergang der Republik Venedig
  3. Die Jahre der französischen Tyrannei
  4. Venedig als Provinzhauptstadt des lombardo-venezianischen Königreichs
  5. Die Revolution von 1848/49 – ein letztes Aufflackern politischer Eigenständigkeit in Venedig

Venedig im Jahr 1826: Ansicht des Dogenpalasts (Gemälde von R. Parkes Bonington)

I. Vorwort

Die Republik Venedig ging unter im Jahre 1797, nachdem sie fast 1000 Jahre hindurch als eigenständige Macht im europäischen Staatengefüge bestanden hatte. Von Napoleon zerschlagen, ging das Staatsgebiet der einstigen Großmacht nach dem Willen des Zerstörers 1798 in den Besitz Österreichs über. Im Zuge der Revolutionen von 1848/49 unternahmen die Venezianer einen letzten Versuch, ihre Freiheit zurückzugewinnen. Doch das heroische Aufbäumen gegen die Fremdherrschaft scheiterte, Venedig blieb für weitere 17 Jahre bei Österreich. 1866 trat die Provinz Venezien dem zuvor gegründeten Königreich Italien bei.

Die Republik Ve­ne­dig ging un­ter im Jah­re 1797, nach­dem sie fast 1000 Jah­re hin­durch als ei­gen­stän­di­ge Macht im eu­ro­päi­schen Staa­ten­gefüge be­stan­den hat­te. Von Napo­leon zer­schla­gen, ging das Staats­gebiet der ein­sti­gen Groß­macht nach dem Wil­len des Zer­stö­rers 1798 in den Be­sitz Öster­reichs über. Im Zuge der Re­vo­lu­tio­nen von 1848/49 un­ter­nah­men die Ve­ne­zi­aner ei­nen letz­ten Ver­such, ih­re Frei­heit zu­rück­zu­ge­win­nen. Doch das hero­ische Auf­bäu­men ge­gen die Fremd­herr­schaft schei­ter­te, Ve­ne­dig blieb für wei­tere 17 Jah­re bei Öster­reich. 1866 trat die Pro­vinz Vene­zien dem zuvor gegrün­de­ten Kö­nig­reich Ita­li­en bei.

Von der siebzigjährigen Zwischenzeit, als Venedig ein Teil der habsburgischen Monarchie war, handelt der folgende Artikel. Obwohl die Landschaft dadurch, daß sie dem deutsch-österreichischen Kaiser zufiel, gewissermaßen auch der deutschen Geschichte angehört, kann die Perspektive nicht sein, die Entwicklung eines „deutschen Landes“ zu schildern. Vielmehr ist sie bestimmt vom Rückblick darauf, was Venedig einst gewesen, um zu verstehen, welche Transformation die politische Identität der Stadt in dieser Übergangszeit durchmachen mußte, damit sie schließlich im italienischen Nationalstaat aufgehen konnte.


II. Rückblick auf den Niedergang der Republik Venedig

Ebensowenig, wie der antike römische Staat nicht an einem bestimmten Ereignis seiner Geschichte zugrunde ging, sondern seine datierbare Auflösung nur das Resultat eines über Jahrzehnte sich erstreckenden allmählichen Niedergangsprozesses war, scheint es mir bei der venezianischen Republik möglich, ihren Untergang nur mit den auffälligsten Anzeichen von Wehrlosigkeit des späten 18. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen (1). Eher möchte ich sagen, im geschichtlichen Ende offenbare sich die Summe politischer Fehler, militärischer Versäumnisse und schicksalhafter Unabwendbarkeiten, denen sich der venezianische Staat in der späteren Phase seiner eintausendjährigen Geschichte ausgeliefert sah. Es erhebt sich dann die Frage, welche unter den verschiedenen heranziehbaren Ursachen für das Verlöschen am bedeutendsten war, wie man die Verantwortung einzelner Gestalten gegenüber allgemeinen politischen Entwicklungen zu gewichten habe, welche Rolle Venedigs Existenz als eines der letzten im Wortsinn mittelalterlichen Staatsgebilde in Europa zufalle und bis wie weit in die Vergangenheit herab man die für das Ende relevanten Verfallserscheinungen reichen zu lassen habe. Kurz: mit welchen Pointen dieses tragisch ausgehende Drama aufwartet, das will ich hier in einer knappen Übersicht darzustellen versuchen.

Einer der Faktoren, die Venedig letzten Endes, d.h. mit über zweihundertjähriger Verzögerung, zum Verhängnis wurden, ist sicherlich schon an den Beginn der Neuzeit zu setzen (2), und zwar die grundlegende Veränderung des europäischen Staatensystems und der durch Entdeckungsreisen nach Übersee erheblich vergrößerte Einzugsbereich europäischer Wirtschaft und Politik. Aus dem heiligen römischen Universalreich, dessen Gültigkeitsansprüche am Ende des Mittelalters mehr symbolischer als faktischer Natur waren, entstanden überschaubarere, kompakter organisierte Territorialstaaten, deren Machtausübung kleineren Hoheitsgebieten wie dem Burgunderreich, Schottland und Portugal bald ein Ende bereitete und blühende Handelsnächte vom Schlage der Hanse oder eben Venedigs, deren Souveränität mehr auf wirtschaftlicher Stärke denn auf territorialem Besitz beruhte, zumindest stark in Mitleidenschaft ziehen mußte. In zweierlei Hinsicht, nämlich auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und erst recht der militärischen Konkurrenz, konnte das bevölkerungsarme Venedig den erstarkten Großmächten England, Frankreich, Spanien und Österreich auf Dauer wohl nicht gewachsen sein. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte es erleben müssen, daß die vereinigten Armeen dieser Mächte als „Liga von Cambrai“ bis an die Lagunen vorrückten, ohne daß die bedrängte Republik ihnen außer diplomatischem Geschick etwas entgegenzusetzen gehabt hätte.

Die respektable militärische Reputation, die Venedig seit dem hohen Mittelalter als Beherrscherin des Mittelmeeres besaß und die sich sogar noch bis ins 17. Jahrhundert am Leben erhielt, mag zur Rettung der Republik in der Weise beigetragen haben, daß sie ein grundsätzliches Antasten der staatlichen Autorität noch nicht zuließ; aber sie entsprach schon bald nach 1500 immer weniger dem tatsächlichen Potential, welches sich am Zusammenschrumpfen der venezianischen Besitzungen im östlichen Mittelmeer und an der abnehmenden Präsenz venezianischer Kriegsschiffe bis hin zum Rückzug in die nördliche Adria ablesen läßt. Von einzelnen kriegerischen Strafmaßnahmen gegen moslemische Piraten abgesehen, verzichtete Venedig in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schließlich völlig darauf, seiner Hoheitlichkeit mit militärischen Mitteln Respekt zu verschaffen. Es verharrte im Zustand ’unbewaffneter Neutralität’ (3) und verließ sich somit auf das freiwillige Desinteresse der umliegenden Großmächte, seiner Selbständigkeit mit leichter Hand den Garaus zu machen. Es heischte nach dem friedlichen Wohlwollen der in Italien sich tummelnden Franzosen, Spanier und Österreicher, indem es sich eifrig bemühte, den Anschein provozierender Parteilichkeit dadurch zu vermeiden, daß es sich mangels eigener Bewaffnung nicht einmal die Möglichkeit zu etwaigen militärischen Eingriffen erhielt.

Mit dem militärischen ging wirtschaftlicher Verfall einher, wenngleich weniger augenfällig, da es zu einer der militärischen Selbstaufgabe vergleichbaren Verarmung des wirtschaftlichen Lebens wenigstens in der Stadt selbst nicht kam. Venedig blieb bis ans Ende seiner staatlichen Existenz wohlhabend, allerdings nicht als der Mittelpunkt des mittelmeerischen Handels, der es einst gewesen war. Diese Position ging verloren, nachdem sich die über den vorderen Orient führenden Handelswege durch die Entdeckung billigerer Schiffahrtswege außerhalb des Mittelmeeres in ihrer Bedeutung weitgehend erledigt hatten. Die Welt hatte sich vergrößert, und Venedig sah sich jetzt an den Rand der Wirtschaftskarten gedrängt, verfiel vom europäischen zum regional auf die Adria beschränkten Zentrum, wo ihm zudem in Triest und anderen früher niedergehaltenen Städten Konkurrenz erwuchs.

Manche Ursache für Venedigs zunehmende Ohnmacht scheint mir auch im Wesen des Staates, in seinem inneren Zustand gelegen zu haben, der sich einerseits stets gleichblieb und in anderer Hinsicht unheilvolle Verwerfungen aufwies. So wenig sich im krassen Gegensatz zu anderen Staaten der frühen Neuzeit in der venezianischen Geschichte einzelne Persönlichkeiten als maßgebliche Gestalter der Politik eindeutig ausmachen lassen, weil die Verfassung kein Regierungsamt mit entsprechenden Machtbefugnissen einräumte, so sehr unterlag doch die herrschende Schicht des Patriziats gewissen kollektiven Zwängen und dem allmächtigen Prinzip der Staatsräson. Als bestimmende soziale Gruppierung kommt dank der Zusammensetzung des Großen Rats ausschließlich die Aristokratie in Betracht, daher soll zunächst nur von ihr die Rede sein.

Waren im früheren Mittelalter Handelstätigkeit und seemännische Unternehmung bzw. der daraus entspringende Reichtum, begleitet stets von sozialem Prestige, gewissermaßen konstituierende Voraussetzung dafür, daß eine Familie dem Adel zugerechnet wurde (4), so wurde seit der Schließung des Rates (1297, seither keine neuen Familien mehr aufgenommen) der Charakter des venezianischen Stadtadels dem des feudalen Geburtsadels ländlicher Regionen immer ähnlicher, indem nämlich der edle Status zu Repräsentation und ’vornehmer Lebensart’ verpflichtete. Diese Pflicht vertrug sich im Gefolge der Renaissance mit ihrer künstelnden Überhöhung ideeller Qualitäten immer weniger mit der nun als schnöde angesehenen Geschäftigkeit, durch die Venedig ja überhaupt in den Rang einer wirtschaftlichen Großmacht der Mittelmeerwelt gekommen war. Als Ergebnis dieses fatalen Zwiespalts beschränkten sich wesentliche Teile des einst so vitalen Adels bald ausschließlich auf die Staatsverwaltung oder sogar auf ein müßiggängerisches Landleben in der Terraferma (dem Hinterland), deren wachsende Bedeutung für Venedig im übrigen auch als Anzeichen für den Wandel von einer Seefahrernation zur Landmacht zu sehen ist.

Unterdessen gingen die Lebensadern des Staates, Handel und Seefahrt, in die Hände bürgerlicher Unternehmer über, die ihrerseits, da sie dem Großen Rat nicht angehörten und auch nicht mehr aufgenommen werden konnten, keinen regelrechten Einfluß auf die Regierungsgeschäfte auszuüben vermochten. Denn an der aristokratischen Verfassung hatte sich mittlerweile bei allem geistigen Wandel nichts grundsätzlich verändert. Im Gegenteil könnte man sogar meinen, der nun händlerisch und militärisch weitgehend untätig gewordene Adel hätte zum Ausgleich sein besonderes Augenmerk auf die argwöhnische Beobachtung der Staatsräson gerichtet – im Sinne der starren Beibehaltung der hergebrachten Regierungsform, die dadurch als Heiliger Gral sozusagen jeglicher Modernisierung, d.h. Anpassung an die Entwicklung der Gegebenheiten, unzugänglich wurde. Wenn das auch überspitzt klingen mag, es bleibt doch die unselige Erkenntnis, daß sich eine Kluft zwischen dem eigentlich kaum noch staatstragenden Beitrag des Patriziats zum Bestehen der Republik, der nurmehr verhältnismäßig gering einzuschätzen ist, und dem nach außen auftrumpfenden Regierungsmonopol auftat. Unwillkürlich denkt man an die läppische Rolle, die der Senat in der römischen Kaiserzeit spielte, bevor das Imperium an der Dekadenz seiner führenden Schichten zugrunde ging.

Die politische Schieflage wurde im 18. Jahrhundert angesichts aufklärerischer Staatsphilosophien so deutlich, daß sich das Bild vom Modell Venedig als einem über Jahrhunderte funktionierenden republikanischen Staatswesen, das seiner Bevölkerung vergleichsweise überragende Freiheiten gewährt hatte, zum abschreckenden Beispiel totalitärer Willkür verkehrte. Allerdings kann dieses Urteil über die Spätzeit venezianischer Geschichte kaum als gerecht erscheinen, wenn man daneben die politischen Zustände in zeitgenössischen ’modernen’ Staaten hält, wenn man auch berücksichtigt, aus welcher Verzweifelung heraus Venedig die Wahrung seiner Lebensinteressen auf diplomatische Raffinesse und geheimpolizeiliche Methoden beschränken mußte. Und nicht zuletzt muß man sich vor Augen führen, daß es in jener Republik während der ganzen Dauer ihres Bestehens keinen Ansatz zu revolutionären Veränderungen aus dem Volk gegeben hatte. Der Wille des Volkes dürfte sogar fast das einzige sein, was sich in der historischen Auswertung nicht als Ursache für den Niedergang des Staates Venedig heranziehen läßt; denn dagegen sprechen außer dem eben genannten Indiz die ausdrücklichen Demonstrationen der einfachen Bevölkerung gegen die am Ende unausweichliche Selbstaufgabe der Republik. Sie war doch gut versorgt worden von ihrem väterlichen Adelsregiment. Dieses hatte sich jedoch selbst im Verlauf der vorangegangenen zwei Jahrhunderte so verbraucht (5), daß es in den letzten Monaten seiner Herrschaft für den ihm anvertrauten, nun tödlich bedrohten Staat offensichtlich keine besseren Emotionen mehr übrig hatte als eine melancholische, manchmal gleichgültige Leidensfähigkeit. Dahinter mag schon die Einsicht verborgen gewesen sein, nach so vielen Jahrzehnten der Versäumnisse und der Überalterung äußerlich nicht mehr retten zu können noch vielleicht überhaupt zu wollen, was innerlich im Grunde schon vor langer Zeit vergangen war.

Sicherlich ist „gewaltsame Zertrümmerung niemals ein Beweis für die innere Lebensunfähigkeit einer politischen Gemeinschaft“ (6), aber in Venedigs Fall hatte sich die Erbringung irgendeines Beweises erübrigt, da die Stadt in keiner Weise mehr in der Lage war, einer Rechtlosigkeit von der Art napoleonischen Zerstörungswahns zu widerstehen – selbst nicht in moralischer Hinsicht, sonst hätte der Abschied von der politischen Unabhängigkeit nicht so würdelos ausfallen müssen. Allerdings wird der letzte Abschnitt dieser Arbeit zeigen, daß ein gewisser republikanischer Geist das eigentliche Ende der Republik überlebt zu haben scheint oder doch wenigstens fünfzig Jahre später als Tradition noch erinnerlich war.


III. Die Jahre der französischen Tyrannei

So willfährig sich die alte venezianische Obrigkeit unter ihrem weinenden Dogen Ludovico Manin in ihr Los der Entmachtung fügte, so sehr sorgte die plötzliche Veränderung der politischen Verhältnisse beim Volk für Irritation. In letzter Konsequenz langgehegter Ängste, vor allem der Angst vor der physischen Zerstörung der Vaterstadt, hatte es von Seiten der Regierung keine Versuche gegeben, die Freiheit zu verteidigen; aber das treue Volk veranstaltete einen kurzen wütenden Sturmlauf gegen die Eindringlinge und ihre Kollaborateure in Venedig, die auf diese Chance zur Usurpation mittels auswärtiger Hilfe gewartet hatten. Es half nichts, aber die Gefallenen des venezianischen Volkes machten, daß „doch noch unter Gewittern die Sonne der adeligen Stadt Venedig versank“ (7), und sie zwangen die provisorische Marionettenregierung von Napoleons Gnaden gleich zu Anfang ihrer Herrschaft dazu, die demokratisch-humanitäre Maske abzulegen: Das Standrecht wurde ausgerufen, die Stadt von französischen Truppen besetzt, Vertretern des alten Regimes der Prozeß gemacht. Eine ’Munizipalität’ wurde eingesetzt, ohne daß eine Wahl im Sinne der strapazierten französischen Revolution stattgefunden hätte. Und nachdem die Franzosen Venedig gründlich ausgeplündert und die Insignien seiner vergangenen Herrlichkeit demontiert hatten, wurden die traurigen Reste von Napoleon an die Österreicher verschachert.

Mit der Stadt ging die Terraferma ebenfalls zum Teil an Österreich, das sich durch militärische Besetzung auch die dalmatinischen Gebiete Venedigs aneignete, während Napoleon die venezianischen Inseln im östlichen Mittelmeer für Frankreich in Besitz nahm. Damit war die Beute vollständig verteilt, was auch die Provinzen gleich ihrer Hauptstadt fast widerstandslos über sich ergehen ließen, nicht ohne allerdings der Republik noch manche rührende Anhänglichkeitsbezeugung zu leisten.

Die kurzlebige napoleonische ’Volksrepublik Venedig’ wurde von einem sechzigköpfigen Komitee regiert, dessen Einsetzung neben der völligen Kapitulation Bedingung des Eroberers gewesen war, um die Stadt vom Kanonendonner zu verschonen; so konnten die einrückenden ’Befreiungstruppen’ gleich offiziell von einer demokratischen Regierung jubelnd empfangen werden. Der Regierung gehörten außer einigen wenigen Aristokraten, die sich für dieses Trauerspiel nicht zu schade fanden, vor allem Männer des bürgerlichen Mittelstandes an, in dessen Reihen die größte Unzufriedenheit bestanden hatte, solange die alte Republik noch existierte. Tatsächlich mag es einigen von ihnen um Pressefreiheit und bürgerliche Gleichberechtigung gegangen sein, aber beides konnte durch diese Munizipalität kaum verwirklicht werden, nahmen doch einige ihrer Galionsfiguren – wie Spada und Zorzi – unter dem Schutz der französischen Garnison mehr nur ihre persönliche Rache für frühere Zurücksetzungen, als daß sie für demokratische Rechte eintraten. Die Scheinheiligkeit oder Einfältigkeit derjenigen, die sich blindlings von der geheuchelten Volksnähe Napoleons zum Narren halten ließen und in hemmungsloser Unterwürfigkeit gegen die Franzosen die Rituale der Revolution nachahmten, „verletzten den Stolz des Volkes, denn schließlich war Venedig die einzige Stadt Italiens, die nie die Erfahrung der Unterwerfung unter ein fremde Macht durchgemacht hatte.“ (8)

Nur wenige hatten eine Revolution gewollt, und nachdem man in dieser Weise mit ihr bekannt gemacht worden war, mußte der Einzug der Österreicher im Januar 1798 wie das Erwachen aus einem bösen Traum erscheinen. Die freudige Begrüßung, die ihnen zuteil wurde, nahm vorweg, was sich 1814 nach dem Ende eines erneuten napoleonischen Zwischenspiels in Venedig noch deutlicher erweisen sollte.

Unter österreichischer Oberherrschaft wurden die gesellschaftliche Ordnung und viele Verwaltungsprinzipien der aristokratischen Zeit restituiert, also im ganzen ein Erholungsprozeß für die im Vorjahr so gebeutelte Stadt eingeleitet, wenn auch die Republik angesichts des imperialen Anspruchs des Kaisers und nach allen bitteren Verlusten der ersten Besatzungszeit nicht wiederbelebt werden konnte. Dem machte die abermalige Verschacherung der Stadt – zurück an die Franzosen – ein Ende. Napoleon, der Ex-Revolutionär, hatte mittlerweile sämtliche ideellen Skrupel über Bord geworfen und sich zum Kaiser der Franzosen aufgeworfen. Wie zum Hohn über die einst von ihm installierte Revolution und über alle Tradition der Republik machte er nun Venedig zu einem Fürstentum innerhalb seines Königreichs Italien. In diese acht Jahre bis zur Wiedereingliederung in das Habsburgerreich ist dank ungeheuerlicher Kollaboration und moralischer Verwesung wohl erst zu datieren, daß dem alten republikanischen Geist jener venezianischen Generation vollends der Garaus gemacht wurde, daß die Erniedrigungen im französischen Sinne Früchte trugen und die Stadt Venedig zur Selbstbestimmung auf lange Sicht nun auch innerlich nicht mehr fähig sein sollte. Was die Österreicher 1814 übernahmen, war ein kulturell und wirtschaftlich zusammengesunkenes Häufchen Elend ohne eigene personelle und politische Kraft zum Wiederaufbau.


IV. Venedig als Provinzhauptstadt des lombardo-venezianischen Königreichs

Der Wiener Kongreß (1814/15) hatte die vorrevolutionären Zustände in Europa weitgehend wiederhergestellt, die traditionellen Gebietsansprüche der großmächtigen Dynastien befriedigt und sogar die meisten kleineren Fürstentümer Mittelitaliens wieder in ihre früheren Hoheitsrechte gesetzt, Venedig aber im Zuge der allseitigen Restauration geflissentlich übergangen. Nachdem die Republik so überaltert gewesen und entsprechend unspektakulär zerfallen war, scheint keine Notwendigkeit empfunden worden zu sein, eine doch theoretisch mögliche Herstellung einer venezianischen Souveränität überhaupt zum Verhandlungsgegenstand zu machen. Das habsburgische Österreich, schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts im Besitz der benachbarten Lombardei, ergriff stattdessen die Gelegenheit, sein oberitalienisches Territorium geographisch abzurunden. Venedig selbst war zu schwach, um dagegen Einwände zu erheben. Ich möchte sogar vermuten, daß es allgemein als Erleichterung gefühlt wurde, der konservativ ausgerichteten, wirtschaftlich wie politisch konsolidierten Oberhoheit des Kaisers anvertraut worden zu sein. Die Einbindung in das Habsburgerreich würde zumindest für den dringend benötigten Frieden bürgen, und dieser Hoffnung war wohl auch die anfangs durchaus freundliche Aufnahme der österreichischen Besatzung in Venedig zu verdanken (9).

Tatsächlich erlebte Venezien, dem Venedig aus traditionellen Gründen als Hauptstadt vorangestellt wurde, wie spiegelbildlich dazu Mailand Residenz der österreichischen Verwaltung in der Lombardei war, bis 1848 einen außerordentlich friedvollen Abschnitt seiner Geschichte. Mit dem inneren und äußeren Frieden ging dank österreichischen Straßenbaus, einer funktionierenden Bürokratie und nicht allzu drückender Steuern eine gewisse wirtschaftliche Regenerierung der Region einher. Zwar dürften die Maßnahmen für strukturelle Verbesserung nicht so sehr durch soziales Bewußtsein der Regierung wie durch ökonomische Zweckmäßigkeit motiviert gewesen sein, trotzdem waren sie geeignet, leidlich den sozialen Frieden zu gewährleisten. So war der Erwerb Venedigs für Österreich in den ersten Jahren durchaus ein Zusatzgeschäft, da die Regierung der Wirtschaftskrise, die bis gegen 1820 andauerte, durch materielle und finanzielle Hilfe für die hungernde Bevölkerung begegnete, um freilich späterhin die Provinz zu einer Goldgrube des Reiches zu machen. Der Unterstützung des venezianischen Bürgertums und des Adels, also der besitzenden Bevölkerungsschichten, konnte man sich versichern, indem Eigentumsverhältnisse, Adelsrechte und Handelsprivilegien aus republikanischer Zeit unangetastet blieben, soweit sie eben mit den österreichischen Interessen vereinbar waren. Bauernschaft und Stadtproletariat profitierten über verbesserte Schulbildungsmöglichkeiten hinaus kaum von der neuen Ordnung, aber hier sorgte die über viele Jahrhunderte geübte Wohlerzogenheit des venezianischen Volkes für die Einhaltung der gesellschaftlichen Disziplin. Ginsborg schreibt über das charakteristische Stillhalten der Bauernschaft (10):

„Aber die venezianische Bauernschaft war nicht für ihre Militanz bekannt. Die Fruchtbarkeit des Bodens und die gütige Regierung der alten Republik hatten es fertiggebracht, die ländlichen Armen über viele Generationen ruhigzustellen. Die napoleonischen Auspressungen hatten das Gefüge gestört, aber nicht – wie im südlichen Italien – zu einem Zustand dauernden Aufruhrs und zu Militanz geführt. Solange die Ernten ordentlich blieben, hatten die Österreicher vom venezianischen Umland wenig zu befürchten.“

Allerdings hatte die relative wirtschaftliche Gesundung, nachdem gerade die Stadt Venedig 1815 förmlich am Boden zerstört gewesen war, zum vorläufigen Ende der Besatzungszeit hin ihren Preis in zunehmenden Steuerforderungen der Wiener Regierung und in handelsrechtlichen Zurücksetzungen zum Schutz der den Österreichern näherstehenden Konkurrenten Venedigs, besonders Triests. Der Eigennutz der habsburgischen Wirtschaftspolitik wurde für venezianische Handelsunternehmer und Landbesitzer mit der Zeit immer unannehmbarer und vereinigte sich mit dem Empfinden der politischen Machtlosigkeit zu einem allgemeinen Interessenkonflikt der führenden Schichten mit der österreichischen Regierungsgewalt.

Rechtlich unterstand das Gebiet, das in ähnlichen Grenzen früher die unabhängige Republik gebildet hatte, jetzt einem österreichischen Vizekönig, dessen beide Herrschaftsbereiche Venezien und Lombardei jeweils einem Zivilstatthalter, dem zur Aufrechterhaltung der Ordnung Militärgouverneure an die Seite gestellt waren. Diese monarchisch-hierarchische Verfassung erlaubte Beteiligung italienischer Politiker am Regieren nur auf der untersten Ebene des Gemeindewesens und nur in zivilen Tätigkeitsbereichen. Entscheidungsgewalt besaßen die aus Einheimischen zusammengesetzten Organe nur so weit, wie sie die überregionalen Zuständigkeiten der Gouverneure nicht durchkreuzten. Das Amt des Bürgermeisters von Venedig als das höchste für Venezianer erreichbare langte in seinen Kompetenzen über die Stadtgrenze nicht hinaus. Politische Ämter konnten also mehr nur Ehrenposten als Machtstellungen sein, und selbst diese wurden wiederum fast vollständig vom Adel besetzt, nachdem die Wiener Regierung Zugehörigkeit zum Patriziat in den meisten Fällen schon durch Verleihung von Grafentiteln anerkannt hatte.

Das Bürgertum, das während der napoleonischen Wirren schon einmal kurzzeitig nach politischen Funktionen hatte greifen dürfen, blieb weiterhin bis auf wenige Ausnahmefälle auf private Aufstiegsmöglichkeiten beschränkt. Da aber die Hauptmerkmale des Adels seit geraumer Zeit fehlender Reformgeist und vornehmer Ruhestand auf den ererbten Landsitzen waren – beides erweckte nicht den Eindruck von politischem Gestaltungswillen über bloße Ämterbekleidung hinaus – , gleichzeitig wirtschaftliche Agilität und sogar Landbesitz großenteils in bürgerliche Hände übergegangen waren, mußte gerade dem Bürgertum der Mangel an Einflußmöglichkeiten schmerzlich sein. Denn von der Karrierehemmung des einzelnen abgesehen, schien der status quo Venedig von vielen fortschrittlichen Entwicklungsmöglichkeiten abzuschneiden. Hinzu kam, ebenfalls in erster Linie die Interessen des Bürgertums betreffend, daß das österreichische Regiment hinsichtlich politischer Veröffentlichungen und im kulturellen Bereich für ein rigideres Klima sorgte, als es die freie Republik gekannt hatte. Durch Zensur und Unterdrückung wachte die Polizei über das Nicht-Stattfinden öffentlicher Debatten, über die Unfreiheit der Presse, des Theaters, selbst der klassischen Literatur und der Universitäten. Das alles waren Anzeichen übertriebener Metternich’scher Konspirationsangst, die ab 1821 wiederholt zu politischen Schauprozessen in Venedig führte. Der herrschende Geist der Unfreiheit „verursachte in gebildeten venezianischen Kreisen ein tiefes Gefühl von Ärger und Entmannung“ (11).

Sozusagen als Ergänzung zu den engen politischen Grenzen setzte die Regierung einen gestärkten und gegenüber früher entschieden dogmatisierten Kirchenapparat ein, um jede mögliche volkstümliche Opposition niederzuhalten. Durch öffentliche Beichtpflicht, jesuitische Volkserziehung und moralischen Druck suchte sie vor allem die provinzielle Bevölkerung gehorsamsmäßig in den Griff zu bekommen. Mochte dieser Versuch auch auf Dauer nicht fruchten, so daß die bürgerliche Revolution beim bäuerlichen und kleinbürgerlichen Volk letztlich doch auf erhebliche Anteilnahme stoßen sollte, so verstand man jedenfalls auf diese Weise den Klerus vorübergehend eindeutig auf die österreichische Seite zu ziehen. Das war außerdem im wesentlichen beim Adel gelungen, der zwar nur noch einen schwachen Abglanz seiner früheren aristokratischen Macht innehatte, aber wenigstens diesen beibehalten wollte und deshalb mit den Österreichern darin einig war, daß vor allem nationalen oder republikanischen Denken darauf zu achten sei, es zu keinem gesellschaftlichen Umsturz kommen zu lassen. Dem stand, wie gesagt, eine grundsätzliche Unzufriedenheit der sich formierenden bürgerlichen Partei gegenüber.


V. Die Revolution von 1848/49 – ein letztes Aufflackern politischer Eigenständigkeit in Venedig

Die Unentschiedenheit der wirtschaftlich und kulturell führenden Schichten Venedigs, ob und in welcher Weise Unabhängigkeit von Österreich anzustreben sei, bot im Vergleich mit anderen italienischen Regionen, wo Freiheitsvorstellungen mazzinianischer oder neuguelfischer Art dank katastrophalerer Verhältnisse oder geschulteren nationalliberalen Bewußtseins leichter eingedrungen waren, keine günstigen Voraussetzungen für revolutionäre Veränderungen. Weder in nationaler noch in sozialer Hinsicht gehörte Venedig bis 1846 der vorderen Front des freiheitlichen Wunschdenkens an; man könnte meinen, für eine aufrührerischere Haltung wäre die Fügungsbereitschaft unter gegebene Herrschaftsverhältnisse als Charakteristikum venezianischer Geschichte noch allzu lebendig gewesen. So mußten die Voraussetzungen für die ab 1847 einsetzende geistige Erhebung gewissermaßen erst in der Gestalt von Handlungszwang, der von akuter Not herrührte, an Venedig herangetragen werden. Begünstigend wirkte sich auch aus, daß die österreichische Monarchie von den östlichen Teilen ihres Reiches unter Druck gesetzt, von daher in eine defensive Position gedrängt worden war, um nicht mehrere Brandherde gleichzeitig bekämpfen zu müssen.

Unter dem Eindruck der verheerenden Wirtschaftskrise von 1846/47, auf welche die Regierung im Gegensatz zu 1815/18 nicht mit staatlichen Hilfsmaßnahmen zu reagieren bereit war, mochten sich die Venezianer der allgemeinen Unruhe, die in ganz Italien aufkam, allmählich anschließen. Einen weiteren Anstoß zum Freiheitswillen, der vermutlich dem venezianischen Legitimismus entgegenkam, bedeutete die Wahl Papst Pius’ IX., dessen wohl eher unfreiwillig bzw. unbedacht zugestandene Liberalisierungen im Kirchenstaat eine über ganz Italien sich ausbreitende Kettenreaktion auslösten, welche bei der Bevölkerung auch des traditionell eher wenig klerikal begeisterten Venedig ein neues Erglühen für die Kirche bewirkte, die jetzt für Befreiung und nationale Einigung zu stehen schien.

Da die Wirtschaftskrise auch das Bürgertum, das sich schon in der Frage des Eisenbahnbaus zu einer nationaleren, sich von Österreich abwendenden Denkungsart durchgerungen hatte, schwer in Mitleidenschaft zog und das bäuerliche und kleinbürgerliche Volk seinerseits angesichts des Hungers und der von Rom erweckten Hoffnungen nichts mehr zu verlieren hatte, erstreckte sich die Auflehnung gegen Österreich als eine Verbindung aus Not, Nationalismus und religiösem Enthusiasmus bald mehr oder minder auf die ganze venezianische Bevölkerung. Der illusionäre Charakter dieser ’Volksallianz’, ihre Brüchigkeit und Unvereinbarkeit innerer Interessen, sollte sich später erweisen; zunächst aber entstand eine Art gemeinsamer Wille auf allen Ebenen, dem sich lediglich Teile des Adels verschlossen.

In der Phase der „lotta legale“, des sich noch in gesetzlichen Bahnen bewegenden Widerstandes gegen die österreichische Obrigkeit, die dem eigentlichen revolutionären Geschehen vorausging, setzte sich der bürgerliche Anwalt Daniele Manin an die Spitze der venezianischen Opposition. Obwohl streng der Gesetzlichkeit und den sozialen Interessen mehr des Bürgertums als des Volkes verpflichtet, war er durchaus der demokratisch gesinnten geistigen Gruppierung um Mazzini zuzurechnen. Durch seine gewandte Formulierung provozierender Forderungen an die Wiener Regierung – nämlich der im folgenden mit den Worten Ginsborgs dargestellten – erlangte er eine Popularität, die ihn quasi automatisch zum Anführer der bevorstehenden Rebellion machen würde, erreichte es aber auch, daß für die Regierung das Faß zum Überlaufen gebracht war und sie ihn ins Gefängnis stecken ließ:

„Am selben Tag, als Manin dem Gouverneur der Stadt schrieb, präsentierte er der zentralen Kongregation seine zweite Petition. Es war ein dreistes Schriftstück, das den Höhepunkt des legalen Widerstands in Venedig markierte. Manin verlangte, das lombardo-venezianische Königreich solle „wahrhaft national und italienisch“ sein, unabhängig von den Wiener Regierungsbehörden und verantwortlich allein gegenüber dem Kaiser; die Finanzen des Fürstentums sollten [von Wien] abgetrennt und durch Italiener überwacht werden. (…) Es sollten Redefreiheit gewährt und die Befugnisse der Polizei überprüft werden.“ (12)

Während dieses Programm selbst, weil es an der gesellschaftlichen Ordnung nicht rührte, Manin hauptsächlich einen Heimerfolg bei seiner eigenen bürgerlichen Klasse bescherte, fand bei der übrigen Bevölkerung mehr das Märtyrertum des Volksredners Anklang, der es verstand, auch die unteren Klassen zugunsten einer Reform einzuspannen, von der sie sich im Grunde nicht viel zu versprechen hatten. Zusätzliche Gefolgschaft verschafften ihm die wiederholten Aufstände in Mailand und in den Provinzstädten Veneziens: Sie wurden von österreichischen Truppen niedergeschlagen, was zur Eskalation des ’Deutschenhasses’ (13) und zur massenhaften Solidarisierung mit den Gewaltopfern führte.

Im Februar/März 1848 zeigte das politische Barometer auf Sturm; dennoch kamen die Venezianer nicht aus eigenem Entschluß dazu, den bisherigen prinzipiellen Legitimismus zu durchbrechen, sondern folgten gewissermaßen dem Fanal, das aus Sizilien, Paris und Wien gegeben wurde. Daß es auch in Wien revolutionäre Ansätze gab, die immerhin den Fürsten Metternich seine Macht kosteten, nach dessen Anschauung von Italien als lediglich geographischem Begriff sich die Restauration 1815 gestaltet hatte, band den Befehlshabern der österreichischen Streitkräfte die Hände, so daß die Revolution zunächst ihren Lauf nehmen konnte, ohne militärisch gestört zu werden. Nun geschah etwas Erstaunliches: Venedig, das sich in den vorangegangenen Jahrzehnten am „Risorgimento“ so wenig beteiligt, das nicht die Kühnheit der Mailänder Freiheitsutopisten hervorgebracht, sondern sich stets relativ gehorsam gegen Österreich gezeigt hatte, schloß sich dem Aufbruch der anderen Städte nicht einfach an, es überholte jetzt alle anderen Schauplätze des Aufruhrs an revolutionärem Eifer.

Um dieses Paradoxon aufzulösen, scheint es mir nötig, die mutmaßlichen politischen Absichten Daniele Manins kurz gesondert darzustellen, da sich die wechselvolle Geschichte der venezianischen Revolution offenbar in seiner Person kristallisiert: Beruflich die Interessen der venezianischen Geschäftswelt vertretend, hatte er selbst nach der Krise von 1846/47 noch keine Revolution gewollt, da es ihm nicht um Veränderung der sozialen, sondern lediglich der politischen Verhältnisse ging, die er unter anderem persönlich als Behinderung seiner Arbeitsmöglichkeiten empfunden hatte (14). Obwohl – oder vielleicht gerade weil – er das Volk zu lenken verstand, ängstigte ihn das chaotische Potential der Masse, das sich bei einem eventuellen Entgleisen umstürzlerischer Vorgänge gegen bürgerliches Besitztum richten konnte. ’Freiheit’ bedeutete ihm Unabhängigkeit vom österreichischen Diktat, aber keinesfalls gesellschaftliche Anarchie. So scheint sich sein Blick in die Vergangenheit gewandt zu haben, zur alten Republik, die einerseits eine maßvolle Demokratie bei vollkommener Freiheit von fremder Herrschaft, andererseits dank allgemeinen Wohlstands die Unnötigkeit prinzipieller sozialer Reformen symbolisierte. Da sich angesichts der Tradition bzw. der gegenwärtigen Zustände in den anderen Teilen Italiens (15) solche Vorstellungen in den übrigen zu befreienden Gegenden nicht würden in die Tat umsetzen lassen, zumal aber nicht im Zustand einer losen hoheitlichen Bindung an Österreich, stand ihm schließlich als einziger Ausweg doch nur die Revolution als Mittel der Veränderung vor Augen; und zwar nicht allein um der Freiheit von Österreich willen, sondern um Venedig durch vollendete Tatsachen gleichzeitig föderalistische Unabhängigkeit vom italienischen Nationalgedanken zu verschaffen. Damit befand sich Manin auch durchaus in Übereinstimmung mit dem übrigen Bürgertum und den Resten des politisch beteiligten Adels, deren nationale Identität sich noch immer mehr auf Venedig als auf Italien oder gar Österreich bezog. Demnach sollte Venedig die Hauptstadt einer neu einzurichtenden autonomen Region Venezien werden; wohl innerhalb eines möglichen italienischen Staatsverbandes, aber mit deutlichen Vorbehalten gegenüber einer voraussichtlich monarchischen Zentralregierung in Turin oder Rom.

Binnen weniger Wochen nach dem Ausbruch der Revolution sollte sich das venezianische Mißtrauen gegen die italienischen Bundesgenossen als berechtigt erweisen. Durch die Geschehnisse in Wien und in Süditalien ermutigt, hatte die Bevölkerung Manin aus dem Gefängnis befreit, ein irrtümlich vom österreichischen Gouverneur Palffy auf den Namen Ludovico Manin ausgestellter Entlassungsschein ihn im Einklang mit der Volksstimmung quasi zum Dogen mit diktatorischen Vollmachten befördert. Eine neue Republik war ausgerufen und eine provisorische Revolutionsregierung gebildet worden, da fand Venedig seine politische Linie der konsequenten Revolution mit demokratischem Ausgang durch den Vorwurf aus Mailand, Florenz und Piemont her zersetzt, die nationale Idee verraten zu haben. Durch die Ausrufung der Republik wolle Venedig im geeinten Italien eine Sonderrolle spielen, im übrigen – so auch führende Köpfe des gleichzeitigen lombardischen Aufstands – , sei man für den endgültigen Erfolg des Befreiungsschlages auf militärische Hilfe durch das Haus Savoyen angewiesen, um österreichischen Militäraktionen standhalten zu können.

Auf piemontische Truppen zu spekulieren, hieß aber, sich auch piemontischen Vorstellungen von der italienischen Einigung zu unterwerfen, nämlich der monarchischen Gewalt Karl Alberts statt einer konstitutionellen Regierungsform. Obwohl Manin als Demokraten dieser Gedanke zuwider war, ließ er sich von der Problematik überzeugen, wie sie ihm ein Freund aus Mailand in einem Brief darstellte:

„Hier hat die Ausrufung der venezianischen Republik Mißvergnügen hervorgerufen. Jeder befürchtet, daß Venedig sich von der italienischen Familie loslösen will, um zum Partikularismus der Markusrepublik zurückzukehren. Jeder wünscht sich die Republik, aber eine provisorische Regierung kann und darf sie nicht proklamieren. Die sardinischen Truppen wären nicht in unser Gebiet einmarschiert, um den gemeinsamen Feind aus Italien hinauszuwerfen, wenn sie von einer republikanischen Regierung dazu aufgefordert worden wären. Karl Albert liebt seinen Thron zu sehr, und wir brauchen die piemontischen Truppen …“ (16)

Indem Manin es dies eine Mal zuließ, daß sich die Republik den „Interessen Italiens“ beugte und der revolutionäre Prozeß abgebremst wurde, sollte seine Politik den Makel der Kurs-Unsicherheit bis zum Ende der venezianischen Freiheit nicht mehr loswerden. Reihum gab er dem Drängen der Monarchisten, seiner Angst vor unkontrollierbaren Volksaufläufen und dann wieder den Empfehlungen idealistischerer Freunde nach, und alles vor dem Hintergrund permanenter militärischer Versäumnisse, welche die Republik am Ende wehrlos dastehen lassen sollten.

Die Streitkräfte des Königs von Piemont-Sardinien wurden von den Österreichern mehrfach vernichtend geschlagen, so daß die Lombardei das Wiedereinrücken der habsburgischen Besatzungsmacht nicht verhindern konnte, und die römische Republik wurde von den Truppen des französischen Kaisers Napoleon III. zerschlagen, der Papst in seine alten Rechte eingesetzt. Im August 1849 fand sich Venedig als die letzte revolutionäre Festung Italiens wieder, die noch nicht von den Kräften der Reaktion zurückerobert worden war. Es sollte zum Objekt des österreichischen Willens werden, mit militärischer Gewalt ein neuabsolutistisches Exempel zu statuieren. Ministerpräsident Schwarzenberg hatte schon zu Beginn des Jahres geschrieben:

„Solange die revolutionäre Regierung in Venedig immer noch als lebendiges Symbol des Aufruhrs Italien in Unruhe versetzt, so lange die sogenannte Republik von San Marco Revolutionären von überall her Zuflucht gewährt: So lange wird unsere Vorstellung von Ordnung auch im Rest der [italienischen] Halbinsel nicht triumphieren können.“ (17)

Obwohl Schwarzenberg Venedig damit unfreiwillig die größte Ehre antat, seinen jetzigen Status an einigen der besten Eigenschaften der Markusrepublik zu messen, konnte das doch an der Durchführung des Programms nichts ändern. So kam es, daß Venedig im Untergang seiner zweiten Republik nachholte, was die erste zwei Generationen zuvor unter schwersten Demütigungen umgangen hatte: einen verzweifelten Kampf um die Freiheit, der doch nur mit einer völligen Niederlage enden konnte. Wenige Tage vor dem Fall, als Manin sein zwiespältiges Werk bereits dem Tode geweiht sah, hörte man ihn die todesmutige Haltung der Bevölkerung bewundern: „Was für ein Volk! Zur Kapitulation gezwungen zu sein – mit einem solchen Volk!“ (18)

Aber tragischerweise hatte gerade er, der er sich während der vergangenen anderthalb Jahre in einer sehr autokratischen Stellung befunden hatte, durch seinen Unwillen, das Volk zu bewaffnen, dieser Republik die gleiche Schwäche angetan wie einst der regierende Adel der Markusrepublik. Es gab auch andere Parallelen zur Vergangenheit, den jahrhundertealten Schlachtruf „Viva San Marco!“, die besondere Rolle des Arsenals und seiner Arbeiter, die zwiespältige Haltung der Terraferma gegen ihre Hauptstadt, die eine Mischung aus Ausbeutungsangst und Anerkennung des geistigen Führungsanspruchs war. Aber die Revolution von 1848/49 sollte die letzte Reminiszenz an die vergangene Größe in der Geschichte Venedigs sein.

Nach weiteren siebzehn Jahren unter österreichischer Herrschaft wurde Venedig mit seiner zugehörigen Provinz als letztes bis dahin noch fremdbeherrschtes Teilgebiet in die italienische Nation ’heimgeholt’. Fortan ist die Stadt nur noch im Zusammenhang mit den Geschicken des schon fünf Jahre vorher entstandenen Einheitsstaats unter der Dynastie Savoyen zu betrachten. Eine andere politische Identität wäre wohl auch nach dem Austritt aus dem habsburgischen Reichsverband nicht nur unrealistisch, sondern unvorstellbar gewesen, nachdem vom übrigen Italien bereits die revolutionäre Republik als kleinstaatlicher Anachronismus verurteilt worden war. So konnte es der „Serenissima“ am Ende nicht besser ergehen als ihrer nordischen Schwester, Lübeck, der einstigen Königin der Hanse.


Anmerkungen

  1. Kretschmayr, Geschichte von Venedig III, S. 551, spricht vom „Zufall Napoleon“ und setzt den französischen Eroberer damit an die Stelle lediglich eines äußeren Anlasses, dem die eigentlichen Ursachen der politischen Schwäche für das geschichtliche Ende willkürlich quasi zugute kamen.
  2. Die Übereinstimmung mit der Epochenwende kann nicht sehr erstaunen, da ja – neben vielem anderen – die Herausbildung großer, nationalgeprägter Staaten geradezu ein definierendes Merkmal der ’neuzeitlichen’ Geschichte ist.
  3. siehe Kretschmayr S. 510 ff.
  4. Auf ’uralte Abstammung’ konnten sich nur sehr wenige Familien berufen; siehe dazu Alvise Zorzi, Venedig (1981), S. 261 bis 263.
  5. Zur Ausdünnung der venezianischen Aristokratie siehe F.C. Lane, Seerepublik Venedig, S. 653 ff.
  6. Zitat Kretschmayr S. 551
  7. Zitat Kretschmayr S. 538
  8. Zitat Zorzi, Venedig (1985), S. 606
  9. vgl. Ginsborg, Daniele Manin and the Ventian Revolution, S. 10: „For most of the period (18151848) the Italian provinces, with few signs to the contrary, welcomed the peace and stability which Austrian rule brought.“
  10. Ginsborg S. 29
  11. Zitat Ginsborg S. 37
  12. Ginsborg S. 73/74
  13. Auch gebildete, mehr auf kultureller als auf politischer oder kriegerischer Ebene arbeitende Vertreter des Risorgimento waren offenbar in dieser Zeit der patriotischen Aufwallung zur Unterscheidung zwischen ’deutsch’ und ’österreichisch’ oft nicht fähig. Erstens verrät die Feststellung, auf wie klischeehaftem, nationalistischem Grund vor allem die oberitalienische Volksbewegung beruhte, da sie ja – und vielleicht nicht ganz zufällig – wichtige, nämlich soziale Fragen bis weit über die Staatsgründung hinaus vernachlässigte. Denn die Verkennung der österreichischen Sonderrolle als imperiale Großmacht bedeutet – zweitens – die Ignorierung der Tatsache, daß zur selben Zeit wie in Italien auch in Deutschland um die Herstellung eines freiheitlichen Nationalstaats gerungen wurde, dem Österreich ebensosehr im Wege stand wie dem italienischen Nationalismus. Als Beispiel für die Nebulösität des Begriffs „deutsch“ unter italienischen Patrioten führe ich einen Ausspruch Giuseppe Verdis an, der dem Risorgimento in der Oper „Nabucco“ so etwas wie eine hymnische Apotheose gegeben hatte: „In den Adern der Eroberer fließt noch immer das alte Blut der Goten, diese Menschen sind abscheulich stolz, unnachgiebig, unduldsam, voller Verachtung für alles, was nicht deutsch ist, und grenzenlos habgierig. Menschen mit Gehirn, aber ohne Herz; eine starke Rasse, aber keine zivilisierte.“ (zitiert nach Wechsberg, Giuseppe Verdi, S. 124)
  14. Venezianischen Anwälten italienischer Sprache war es nach dem Gesetz des lombardo-venezianischen Königreichs nicht erlaubt, ihre Klienten vor staatlichen Gerichten zu vertreten.
  15. Die Voraussetzungen Genuas wären an sich denen Venedigs ähnlich gewesen, allerdings befand sich die frühere Republik nun unter der Herrschaft Piemonts, also nicht einer ’fremden Besatzungsmacht’, sondern eines zur Nation in spe gehörenden Fürstentums, was ihre Freisetzung nach Manin’schen Vorstellungen erschweren würde.
  16. zitiert nach Ginsborg S. 145
  17. zitiert nach Ginsborg S. 296 (Rückübersetzung aus dem Englischen – der deutsche Originaltext ist mir leider nicht bekannt)
    englischer Wortlaut des Schwarzenberg-Zitats bei Ginsberg:
    „As long as the revolutionary government in Venice still stands as a living symbol of the subversive spirit which arouses Italy, as long as the so-called Republic of St Mark offers an asylum to all entrepreneurs of the revolution who have come to no good elsewhere, ideas of order will not be able to triumph in the rest of the peninsula.“
  18. zitiert nach Ginsborg S. 333

Literaturverzeichnis

  • J.W. Bush, Venetia Redeemed, New York 1967
  • P. Ginsborg, Daniele Manin and the Venetian Revolution of 1848/49, Cambridge 1979
  • J.A. von Helfert, Kaiser Franz I. und die Stiftung des lombardo-venezianischen Königreichs, Innsbruck 1901
  • H. Kretschmayr, Geschichte von Venedig Bd. III, Stuttgart 1934
  • F.C. Lane, Seerepublik Venedig, München 1980
  • R. Lili, Geschichte Italiens in der Neuzeit, Darmstadt 1980
  • L. Salvatorelli, Geschichte Italiens, Berlin 1942
  • J. Wechsberg, Giuseppe Verdi, München 1975
  • A. Zorzi, Venedig, München 1981
  • A. Zorzi, Venedig – Die Geschichte der Löwenrepublik, Düsseldorf 1985

B.G. Niebuhr

 


Autor:
Datum/Letzte Bearb.: 1988/2022