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Europäische Musikgeschichte: Die 20 größten deutschen Komponisten   heute: Mittwoch, 11.12.2024


Einführungsartikel vorlesen lassen (Balabolka)

Der deut­sche Bei­trag zur eu­ro­päi­schen Mu­sik


Deutsche Komponisten





Abbildung: Nationaltheater Berlin. Hier wur­de 1821 Carl Ma­ria von We­bers „Freischütz“ ur­auf­ge­führt und stür­misch be­ju­belt. Die „Deut­sche Na­tio­nal­oper“ war ge­bo­ren – und ei­ne neue Epo­che er­öff­net, die mu­si­ka­li­sche Ro­man­tik.

Musikgeschichte vom Barock bis zur Spätromantik

Zuerst ein „Disclaimer“, wie es heute gerne heißt, wenn etwas folgen soll, das von manchen Zeitgenossen als unangemessen empfunden werden könnte: Der Autor des Nachfolgenden ist weder Musikwissenschaftler noch ausübender Musiker, sondern Historiker und Germanist, in Sachen Musik also nichts als ein interessierter Laie. Ich bekenne mich hier – wie ja der ganze Rechte-Seiten-„Kulturpark“ ein Bekenntnis zu unserer vergangenen kulturellen Größe ist – als Verehrer der klassischen Musik; als Enthusiast, Liebhaber, um das moderne Wort „Fan“ zu vermeiden. Ich bitte deshalb, nicht alles furchtbar ernst zu nehmen, nicht allzu wörtlich, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. – Die „20 bedeutendsten deutschen Komponisten“ mit kurzen Beschreibungen und Werklisten finden Sie unterhalb des Einfüh­rungs­artikels.

Klassische Musik – eine „nationale“ Angelegenheit?

Jeder Mensch hat, ob er will oder nicht, ein Heimatland. Es ist das Land, in dem er aufgewachsen ist, das ihn geprägt hat, in dem er meistens auch geboren wurde. Händel kam aus Halle, J.S. Bach aus Eisenach. Beethoven war ein Kind aus Bonn, Mozart aus Salzburg. Haydn stammte aus Niederösterreich und wuchs überwiegend in Wien auf. Brahms’ Heimat war Hamburg, Bruckners die Umgebung von Linz. Richard Strauss war zeitlebens Münchner, die Strauße mit „ß“ eine Wiener Komponisten-Dynastie. Sie alle waren Deutsche – bis 1806 Angehörige des Deutschen Kaiserreichs, des „Heiligen Römischen“, danach des Deutschen Bundes. Ihre erste Sprache war Deutsch, natürlich in verschiedenen dialektalen Spielarten. Wer schon als Kind in ein anderes als sein Geburtsland verpflanzt wurde, für den war es im 18. und 19. Jahrhundert undenkbar, die neue Heimat abzulehnen und ein Fremder zu bleiben. Händel entschied sich als junger Mann für England, wo gerade eine deutsche Familie den Königsthron übernahm. Andere – Gluck und Meyerbeer – gingen nach Italien oder Frankreich, kehrten aber immer wieder in die Heimat zurück. Und es gab welche – Offenbach, Mayr – , die dort blieben, sie wurden richtige Franzosen oder Italiener. Wir wollen dennoch nicht vergessen, daß sie Deutsche waren, die ihre Kultur mit sich in ihre neue Heimat nahmen.

Ist es sinnvoll, die deutschen Komponisten aus der europäischen „Klassik“ herauslösen und eine „Deutsche Musikgeschichte“ aufmachen zu wollen? Selbstverständlich nicht! Kaum eine Künstlergemeinde ist so international verflochten, wie es Musiker schon immer waren. Wieviele Deutsche mögen vor 200, 300 Jahren wenigstens einmal in ihrem Leben nach London gereist sein? Einer von 1000? Oder einer von 100.000? Das dürfte schwer festzustellen sein, und ich weiß es natürlich auch nicht. Wir wissen aber, welche deutschen Komponisten dort waren: Händel, Johann Christian Bach, Mozart, Haydn, Weber, Mendelssohn, Liszt, Clara Schumann – sie alle trafen in London auf ein enthusiastisches Publikum, das im 18./19. Jahrhundert nach deutscher Musikprominenz verlangte; denn eigene große Meister hat England nach dem Tod von Henry Purcell (1659 - 1695) nicht mehr hervorgebracht. Andere ausländische Gäste, wie der Operngott seiner Zeit, Rossini, waren natürlich ebenso willkommen. Kein Liebhaber klassischer Musik mit etwas Verstand und Geschmack, kein englischer zumal, würde jemals auf gute Musik verzichten, nur weil sie nicht aus dem eigenen Lande stammt. Wie internationale Klassik in England gefeiert wird, gern mal mit „nationalistischen“ Einlagen, kann man jedes Jahr bei „The Last Night of the Proms“ bewundern: Stimmung wie bei einem Popkonzert, nur viel besser.

Für den lungenkranken Weber wurde seine Londoner Konzertreise 1826 eine Reise in den Tod. Unterwegs dorthin, in Paris, traf er noch die Kollegen Cherubini, Paër, Auber und Rossini. Beinahe wäre er auch dem jungen Berlioz begegnet, der verzweifelt nach ihm suchte, seinem großen Vorbild, ihn aber nicht fand, vielleicht aber auch aus übergroßem Respekt sich nicht an Weber herantraute¹. Was ich sagen will: Auch zu jener Zeit, als das Reisen noch beschwerlich war und Neuigkeiten sich durch berittene Boten verbreiteten, wußte man voneinander, kannte sich oft persönlich, tauschte sich aus unter den musikalischen Superstars der Zeit, unter Komponisten, Virtuosen, Sängern. Die Szene war vernetzt, würde man heute sagen, und sie war international, allerdings auf Europa beschränkt. Denn auf keinem anderen Kontinent hat irgendeine Zivilisation eine vergleichbare musikalische Kunst hervorgebracht.

Auch Komponisten müssen essen!

Von wenigen Ausnahmen abgesehen – Janáček, Debussy, Mussorgsky – , arbeiteten Komponisten bewußt übernational; alles andere hätte ihren „Markt“ beschränkt, wäre also geschäftsschädigend gewesen. Erst recht enthielten sich die meisten politischer Kritik. Zum einen ist Politik nicht das Metier eines Komponisten, zum andern waren Musiker – wie fast alle Künstler – von der Gunst der herrschenden Oberschicht abhängig. Wenn nicht von Haus aus mit Reichtum gesegnet, was nur sehr wenigen vergönnt war, blieb man bis ins 19. Jahrhundert auf adelige „Arbeitgeber“ angewiesen. Selbst ein Beethoven fühlte noch den Schmerz, als Künstler, als geistig haushoch Überlegener vom guten Willen dummer, rückständiger, überheblicher Mäzene leben zu müssen, die keine legitimere Autorität als ihren Adel und ihr Geld besaßen. Wenige Adelige, deren angeborene „Kompetenz“ nun einmal die Politik war, hatten so viel künstlerischen Ehrgeiz, sich selber auf das Handwerk des Tonsetzers einzulassen: Heinrich VIII. von England, Friedrich der Große, Prinz Louis Ferdinand von Preußen, Freiherr Friedrich von Flotow – das war’s so ziemlich mit den komponierenden „Hochgeborenen“.

Das Komponieren stand besser „Wohlgeborenen“ zu Gesicht, talentierten kleinen Leuten aus dem halbseidenen Künstlermilieu, die der Adel einkaufte und in eine Livrée steckte, um den eigenen Hof mit Kultur zu schmücken. Bach und Haydn konnten solch ein Dasein mit ihrem Künstlertum noch ziemlich klaglos vereinbaren, Mozart schon weniger. Für Beethoven war die Behandlung als Domestik so unerträglich, daß er sich tatsächlich zeitweise für die französische Revolution begeisterte, bis er sich von Napoleon belehren lassen mußte, daß alle Gewalt nichts an den sozialen Verhältnissen gebessert hatte. Andere ließen sich politisch verstricken, indem die Revolution für Komponisten auch nur ein Auftraggeber war: Luigi Cherubini war in einem Künstlerlexikon des 19. Jahrhunderts mit fünf „Wetterfahnen“ dekoriert. Er hatte für Ludwig XVI. komponiert, dann für die Revolution, für Napoleon, wieder für die restaurierten Bourbonen und zuletzt, nach der Juli-Revolution von 1830, für den „Bürgerkönig“ Louis-Philippe – immer gleich großartige, repräsentative, wundervolle Musik zum Preise seiner Brotherren. Ansonsten war Musik der Neuzeit bis bald nach 1900, die wir als „Klassik“ bezeichnen, fast immer wohltuend unpolitisch. Komponisten sind Edelleute, „sublime Ästheten, die, auf Hellas und Hispaniens Fluren wandelnd, den stinkenden Mist der Politik verachten“ ². Wenn wir uns nachher einzelnen Komponisten zuwenden, dürfen wir dennoch diesen einzigen politischen Aspekt, der keinen Menschen verschont, nämlich die persönliche Betroffenheit durch politische Zustände, nicht ganz aus dem Auge verlieren.



Abbildung: Claude Debussy (1862 - 1918). „Seit man Pa­ris von die­sen lä­sti­gen Aus­län­dern gesäu­bert hat, sei es durch Er­schie­ßen, sei es durch Aus­wei­sung, ist es au­gen­blick­lich ein reiz­vol­ler Ort ge­wor­den.“ (aus einem Brief Debussys vom 18. August 1914). – Sei­ne Par­ti­tu­ren un­ter­schrieb er in den letz­ten Jah­ren mit „De­bus­sy, fran­zö­si­scher Mu­si­ker“.

Erst mit der Romantik, den mit ihr heraufziehenden nationalen Strömungen, wird auch die Musik etwas politischer. Fairerweise muß man sagen, daß Europa am Beginn des Ersten Weltkriegs stand, dem Ende aller Romantik, als Debussy seine nationalistischen, gegen Deutschland gerichteten Äußerungen von sich gab. Das waren nur vordergründig Dummheiten, denn sich dezidiert als „musicien français“ auf die Brust zu trommeln, dahinter stand eher ein Marketing-Trick: „Schmierige“, ziemlich mißratene Musik sollte dadurch aufgewertet werden, daß sie der Komponist mit nationalem Pathos aufzuladen versuchte. Gute Komponisten können eher nichts dafür, wenn ihre Musik politisch entwendet wird: Verdis „Nabucco“-Gefangenenchor wurde zur heimlichen Nationalhymne Italiens. Richard Wagner († 1883) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Vorbereiter Hitlers und der Nazis hingestellt. Die Nationalhymnen von Österreich und Deutschland sind musikalische Werke von Mozart bzw. Joseph Haydn. Dies alles sind politische Vereinnahmungen, zum Teil Mißbräuche, an denen die Komponisten völlig unschuldig sind. Verdi und Wagner, die beiden Opern-Granden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, waren zwar verbal für die Einigung ihrer zersplitterten Vaterländer eingetreten, aber politisch aktiv waren sie kaum. Wagner wurde in der Reaktionszeit als „Demagoge“ verfolgt, doch das betraf damals jeden zweiten Intellektuellen in Deutschland, auch die Gebrüder Grimm und den Philosophen Schleiermacher. Mozart und Haydn wußten nicht einmal, wie ihnen geschah, denn als es geschah, waren sie längst tot. Was hatten sie getan, um „politisiert“ zu werden? Mozart hatte ein Freimaurerlied geschrieben, Haydn ein Streichquartett, Verdi eine Oper über das antike Ägypten. Und Wagner hatte Geschichten des Mittelalters, Minnesänger und Sagen zu seinen Opernstoffen gemacht – das machte ihn angeblich schon damals reaktionärer Deutschtümelei verdächtig, wird heute behauptet, um alles „Deutsche“ nachträglich zu denunzieren und abzuwerten.

„Europäische Normen“ für Messen und Opern

Nein, Komponisten sind in aller Regel keine politischen Menschen. Dasselbe gilt, Gottseidank, für das Thema Religion. Kaum einer von ihnen war tiefreligiös, mit nur einer sehr prominenten Ausnahme, des Österreichers Anton Bruckner. Brahms soll über ihn gesagt haben: „Den haben die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen.“ Damit konnte aber nur das traurige, in sich gekehrte Privatleben Bruckners gemeint gewesen sein, denn die religiöse Beschränktheit konnte ihn nicht daran hindern, neben Beethoven und eben jenem Brahms selber, einer der grandiosesten, freiesten Sinfoniker der Musikgeschichte zu werden. Fast alle haben sie herrliche Messen geschrieben, mit das Schönste, was klassische Komponisten uns geschenkt haben, obwohl viele von ihnen, nach heutigen, weniger inquisitorischen Maßstäben befragt, vermutlich zugeben würden, daß sie im Grunde eher Agnostiker oder Atheisten waren. Fast könnte man sagen, und man denke dabei an Haydn, Mozart, Cherubini, Beethoven und Brahms: Je weniger persönliche Religiosität, desto ergreifender die von ihnen komponierten Messen. Klingt unlogisch? Dann denken wir mal an die „innerlichere“, die echt religiös beseelte Kirchenmusik der Renaissance, meinetwegen auch an die Gregorianik zurück: streng, eintönig – ziemlich langweilig. Ich erinnere mich an eine Aufführung von Bachs Matthäus-Passion, in der Berliner Philharmonie immerhin, oder besser gesagt: ich erinnere mich an gar nichts, nur daß ich da war, denn ich habe zwei Stunden lang tief und fest geschlafen. An zwei anderen Abenden dieser Berlin-Exkursion besuchte ich „La Bohème“ und den „Freischütz“, hellwach bei beiden. Es kann wohl nicht schaden, wenn der Kirchenmusiker wenigstens mal versucht hat, auch eine Oper zu schreiben. Alle klassischen und romantischen Großmeister der Messe (außer Brahms) waren auch Opernkomponisten.



Abbildung: Hamburgische Oper am Gänsemarkt. Ti­tel­blatt zum Text­buch der deutsch­spra­chi­gen Oper „Croe­sus“ von 1711. Der Kom­po­nist, Rein­hard Kei­ser (1674 - 1739), lei­te­te die bür­ger­li­che Oper über 20 Jah­re lang und schrieb dut­zen­de von Opern für sie, auch noch, nach­dem er als Chef von Ge­org Phi­lipp Te­le­mann ab­ge­löst war. Das Opern­haus wur­de 1764 ab­ge­ris­sen, nach­dem ei­ne Wie­der­be­le­bung ge­schei­tert war.

Gerade Messen, fast immer in lateinischer Sprache gesungen, sind ein gutes Beispiel für die Internationalität der Musik. Doch auch in der Gattung Oper haben wir bis ins 19. Jahrhundert hinein eine „lingua franca“, die es manchmal schwierig macht, ein deutsches, spanisches, englisches oder tschechisches Werk von einem italienischen zu unterscheiden: Überall wurde italienisch gesungen. Stellen wir uns vor, wir hören ein Opernstück aus der Zeit von 1770 bis 1820 – eindeutig Klassik, noch kein Anflug von Romantik oder grande opéra. Die Leitsterne der Zeit sind Gluck und Mozart, bald nach 1800 auch Rossini. Es klingt nach einem der drei, ist aber von keinem, und natürlich ist es auf Italienisch. Hören Sie selbst und schreiben Sie mir, wenn Sie drauf kommen, welcher „etwas kleinere“ Meister das komponiert hat. Sie gewinnen keinen Preis, aber ich schicke Ihnen den YouTube-Link, damit Sie sich die ganze Oper anhören können.

Mal ganz abgesehen von der sanglichen Einheitssprache Italienisch, war der Musikgeschmack europaweit so „uniformiert“, daß die Herkunft des Schöpfers kaum auszumachen ist. Sie sollte auch nicht erkennbar sein, denn Erfolg konnte eine Oper nur haben, wenn sie der herrrschenden Mode entsprach. Das hat natürlich wieder mit den sozialen Verhältnissen zu tun, unter denen die Komponisten arbeiteten: Das Musikleben spielte sich in den Residenzstädten der herrschenden Dynastien ab, in Wien, Paris, London, auch in kleineren Städten wie Mannheim, München oder Neapel, aber fast immer an Fürstenhöfen. Die „bürgerlichen“ Opernhäuser in Venedig und Hamburg (1678 - 1738) waren bemerkenswerte Ausnahmen, sogar im Hinblick auf den Geschmack: In Hamburg wurden Barockopern eigener, deutscher Komponisten gespielt (Keiser, Mattheson, Telemann). Es wurde deutsch gesungen, und die Aufführungen waren volkstümlich-deftig. Doch an allen Fürstenhöfen, wo überall dieselben 5 bis 6 Familien den aristokratischen Geschmack dominierten, kam lange Zeit nur die italienische Oper zum Zuge. Es spielten durchaus Engländer, Russen, Tschechen, Spanier im europäischen Konzert mit, aber sie komponierten alle wie Hasse, Gluck oder Mozart in ihren italienischen Musteropern: der Engländer Arne, der Russe Bortniansky, der Tscheche Mysliveček, der (italienische) Spanier Corselli.

Romantik: Die Entdeckung des Nationalen – auch in der Musik

Wenn es also so ist, daß die Musikszene eine gesamteuropäische war, warum sollte dann jemand versuchen, klassische Musik oder Teile von ihr zu „nationalisieren“? Das tue nicht ich, sondern das ist in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts einfach geschehen. Nach dem Ende der napoleonischen Tyrannei drängte der „Zeitgeist“ in den befreiten Ländern Europas, verschärft durch den reaktionären Druck der Dynastien, auf die Betonung von Nationalkulturen. Nicht mehr die Herrschaft von Habsburgern, Bourbonen oder Sachsen-Coburgs sollte Zusammengehörigkeit stiften, die Identität von Völkern bestimmen, sondern Sprachgrenzen und kulturelle Traditionen. Die Romantik wendet sich gegen die italienische Oper, nicht das Publikum und nicht die italienischen Komponisten, natürlich, aber romantische Literaten und Philosophen. Mit einem Abstand von 20 Jahren, wie immer etwas hinterherhängend, folgt die Musik dem Trend in die neue Epoche, in die Romantik, die literarisch schon bei Schiller angekündigt und noch unter Napoleon zur Blüte gelangt war. Für die Musik setzt Carl Maria von Weber das Fanal, und man kann es genau datieren: Am 21. Juni 1821 wurde in Berlin der „Freischütz“ uraufgeführt. Deutschland hatte mit einem Schlage eine „Nationaloper“, die tumultartig gefeiert wurde – die Romantik war geboren! Eine ähnliche Bedeutung hatte für Rußland Glinkas „Ruslan und Ludmilla“ (1842). In Frankreich wurde mit der „Stummen von Portici“ (1828) von Auber die grande opéra begründet, deren Aufführung in Brüssel sogar eine Revolution auslöste und zur Abtrennung Belgiens von den Niederlanden führte. In Italien haben wir in den 1820/30er Jahren keine unmittelbaren politischen Auswirkungen der Opernromantik, aber dafür die beiden lyrischsten, hyperromantischsten Komponisten der Epoche überhaupt: Gaëtano Donizetti und Vincenzo Bellini.

In der Romantik bilden sich auch neue Genre-Schwerpunkte heraus, die im 18. Jahrhundert noch nicht so deutlich waren. In den früheren Epochen gab es, wenn wir mal von Gluck absehen, noch keine reinen Opernkomponisten oder solche, die nur Kirchenmusik, nur Sinfonien, nur Instrumentalkonzerte oder ausschließlich Kammermusik gemacht hätten. Mozart und Händel, Vivaldi und Haydn sind die besten Beispiele, daß man sich bemühte, möglichst viele musikalische Bereiche abzudecken. Allerdings haben Art und Umfang eines Schaffens natürlich auch damit zu tun, welche Aufgaben durch das Anstellungsverhältnis zudiktiert waren: Bach hat keine Opern geschrieben, weil er das Genre als strammer Protestant selbst unmoralisch finden mochte, aber vor allem wurde von ihm dienstlich in erster Linie Kirchenmusik erwartet; und die lieferte er en gros, neben einer Reihe von interessanten Instrumentalwerken. Händel, als freier Musikunternehmer im Barock eine seltene Ausnahmefigur, schrieb immer das, was gerade gefragt war und sich beim Publikum gut verkaufte, bei Gelegenheit eben auch mal ein – großartiges! – Oratorium „Judas Makkabäus“, mit dem er dem Prinzen William Augustus huldigte, dem Schlächter von Culloden, der die schottische Hochlandkultur auszurotten versuchte. Joseph Haydn war fast 30 Jahre lang in fester Stellung beim Grafen Esterházy, da mußte er jede Woche etwas Neues, möglichst Aufregendes, Abwechselungsreiches abliefern – und häufte so ein riesiges, überaus vielfältiges Gesamtwerk an.



Abbildung: Claudio Monteverdi (1567 - 1643). Nicht der Er­fin­der, aber der er­ste rich­tig er­folg­rei­che Opern­kom­po­nist der Ge­schich­te – sei­ne Antikendra­men „Or­feo“, „Ulis­se“ und „Pop­pea“ wer­den bis heu­te re­gel­mä­ßig ge­spielt.

Italienische Opernmeister & deutsche Meistersinfoniker

Diese Vielseitigkeit, typisch für Barock und Klassik, geht in der Romantik stark zurück. Viele Komponisten spezialisieren sich fast komplett auf ein einziges musikalisches Fach: Etliche Italiener und Franzosen (auch wenn sie eigentlich Deutsche waren) – von Rossini und Meyerbeer bis hin zu Puccini – sind fast ausschließliche Opernkomponisten. Paganini schreibt nur für die Violine, Liszt und Chopin fast nur für das Klavier, und neuerdings gibt es sogar Spezialisten für anspruchsvolle Unterhaltungsmusik: In Frankreich Jacques (Jakob) Offenbach, in Österreich die Strauß-Familie, in Deutschland Lortzing und Nicolai. Aber nicht nur, daß sich einzelne Komponisten auf bestimmte Teilbereiche der Musik zurückziehen, es sind auch deutlich nationale Tendenzen zu erkennen. In Italien ist die Romantik eine Epoche, die sich fast nur in der Oper artikuliert, andere Genres spielen hier praktisch keine Rolle.

Die Oper war eindeutig eine italienische „Erfindung“, geboren um 1600 aus der irrigen Idee von Renaissance-Komponisten, antike griechische Dramen seien singend vorgetragen worden. Die neue Gattung wurde von Monteverdi gleich so fulminant ausgefüllt, daß die italienischen Regeln und die italienische Sprache für 200 Jahre nicht mehr wegzudenken waren. Die Ausnahme der Hamburgischen deutschen Oper habe ich schon angesprochen, aber darüberhinaus fingen erst mit Gluck wieder zaghafte Versuche an, die deutsche Sprache in die Oper einzulassen. Erste erfolgreiche Früchte sind Mozarts „Entführung aus dem Serail“ und die „Zauberflöte“, danach geht es wieder erst mit Weber richtig weiter. Selbstbewußter gingen die Franzosen heran. In Frankreich gibt es schon seit Lully (1632 - 1687), der eigentlich Italiener war, Opern in der Landessprache. Alle anderen Europäer waren in Sachen Oper von diesen drei Musiknationen abhängig, entwickelten vor dem 19. Jahrhundert überhaupt keine eigenen Operntraditionen.

In Frankreich und Deutschland hatte man das Problem, daß man nicht recht wußte, wie man in den Landessprachen zwischen den Musiknummern die Handlung voranbringen sollte. Operntexte sind sowieso häufig keine sonderlich gute Literatur, deshalb wurden jahrzehntelang immer dieselben Textbücher von Metastasio einfach wiederverwertet. Aber irgendeine Geschichte sollte eine Oper ja doch erzählen, und die mußte von einer großen Arie zum Anlaß für die nächste weiterleiten. Die Secco-Rezitative in den italienischen Opern waren schon enervierend, allerdings für Deutsche und Franzosen nicht so schlimm, wenn man nicht allzu gut Italienisch verstand. Aber Cembalo-Begleitung zu aufgeregtem Sprechgesang auf Deutsch oder Französisch? Stattdessen verfiel man auf eine weniger lächerliche, aber ziemlich unmusikalische Lösung: gesprochene Zwischentexte. Sie machen die französisch- und deutschsprachigen Opern von Gluck bis hin zu Beethovens „Fidelio“, Webers „Freischütz“ und Offenbachs Operetten zu sogenannten Singspielen.


Abbildung: Luigi Boccherini (1743 - 1805, links) und Giovanni Battista Viotti (1755 - 1824, rechts) – Komponisten fa­bel­haf­ter Cel­lo­kon­zer­te und Vio­lin­kon­zer­te aus Ita­li­en

Wenn die Oper ursprünglich – und in Teilen der desinteressierten öffentlichen Meinung eigentlich bis heute – eine hauptsächlich italienische Angelegenheit ist, was ist dann eine „typisch deutsche“ Musikgattung? Es muß so etwas geben, sonst könnte der deutsche Kulturraum³ nicht als die wichtigste Musiknation neben Italien gelten. Tatsächlich wurde die orchestrale Instrumentalmusik, die Sinfonie, in der Romantik beinahe zur alleinigen Domäne deutscher Komponisten. Dabei war die sinfonia keine deutsche Idee, sondern ursprünglich das Vorspiel zur italienischen Oper, oft nur wenige Minuten lang, aber von Anfang an, schon bei Monteverdis „Orfeo“ (1607), meist dreigliedrig: schnell - langsam - schnell. Dieses Grundprinzip baute Haydn in über 100 Sinfonien (griechisierend „Symphonien“) zur dreisätzigen, bald auch viersätzigen eigenständigen Gattung aus. Jeder einzelne Satz war bei Haydn und Mozart etwa so lang wie die ganze italienische Sinfonia, und mit Bruckner und Mahler war der Schlußpunkt erreicht: Die „abendfüllende“ Sinfonie der Spätromantik kann nahezu 2 Stunden dauern, fast wie eine italienische Oper.

Im Barock hatten Vivaldi, Corelli, Albinoni und viele andere Italiener hunderte von Concerti grossi und noch mehr Solokonzerte komponiert. Doch seit der frühen Klassik zog sich Italien mehr und mehr aus der Instrumentalmusik zurück. Die letzten großen Italiener, die sich noch nicht hauptsächlich der Oper widmeten, waren Viotti, Boccherini und der Wundergeiger Paganini. Damit war das Feld der Orchestermusik gewissermaßen an die Deutschen übergeben. In der Romantik herrschten Italien und Frankreich über die Oper, während Deutsche, Tschechen und Russen das Feld der Sinfonik bestellten.

Angefangen mit Haydn, über Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Brahms bis hin zu Bruckner und Mahler, sind die meisten großen Sinfoniker Deutsche gewesen. War das 18. Jahrhundert noch eine Zeit relativ sorgloser Massenproduktion, so legten die Nachfolger von Haydn und Mozart größeren Wert auf die Individualität ihrer Stücke. Beethoven, Schubert, Dvorak, Bruckner und Mahler haben jeder neun Sinfonien hinterlassen, mit etwas Schummelei bei der Zählung: Die Nummer sieben ist bei Schubert eine Leerstelle. Gustav Mahler war bewußt, daß mehrere Komponisten ihre neunte Sinfonie nicht lange überlebt hatten. Um diesem Fluch zu entgehen, trickste er mit der Zählung: Seine tatsächliche Neunte nannte er nicht „Sinfonie“, sondern „Das Lied von der Erde“. Allerdings ließ er eine zehnte folgen, die zur „offiziellen“ Neunten wurde. So kam auch er nicht über die Zahl neun hinaus, ehe ihn der Tod ereilte. Mendelssohn, Schumann, Brahms und Tschaikowsky lieferten nur vier bis sechs Sinfonien ab, weil sie nicht so ausschließlich, wie etwa Bruckner, auf dieses eine Genre konzentriert waren. Es sind diese wenigen Schwergewichte des 19. Jahrhunderts, von denen die Konzertprogramme in aller Welt bis heute zehren.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht die Sinfonie, wie die Oper und die Klassik insgesamt, im destruktiven Chaos der „Neuen Musik“ unter. Prokofieff und Schostakowitsch sind stellenweise noch genießbar, und in Deutschland stemmte sich als Letzter der „Reaktionär“ Hans Pfitzner gegen den Untergang. Ein paar „altmodische“ Amerikaner bemühten sich, die Spätromantik noch ein wenig zu verlängern, aber auch sie konnten das Genre nicht mehr retten. Was seit dem zweiten Weltkrieg von Leuten wie Karl Amadeus Hartmann als „Sinfonie“ vorgelegt wird, kann das konventionelle Konzertpublikum nicht mehr ansprechen.

Götterdämmerung

Die von Wagner und Liszt eingeleitete „Erneuerung der Musik“ führte die Klassik in den Untergang. Nicht unmittelbar, denn bis zum Ende der Spätromantik ist alles noch gut anhörbar. Aber die Auflösung der Harmonik, die Steigerung der Dissonanz, der Verzicht auf Schönheit, die Suche nach immer neuen, immer exaltierteren Ausdrucksmitteln waren allmählich wirkendes, tödliches Gift. All diese „Modernität“ bewirkte, daß die Musik aufgespalten wurde, daß sie sich in „E-Musik“ und „U-Musik“ teilen mußte. Volkstümliche Lieder und Tänze hat es als „Alltagsmusik“ wohl immer schon gegeben. Diese Richtung wurde schon gestärkt und professionalisiert, als die „ernste“ Klassik noch in ihrer Blüte stand. Johann Strauß, der Jüngere, und seine Brüder waren Zeitgenossen von Richard Wagner. Statt Operetten, Walzer und Polkas hätten sie auch Sinfonien und Opern schreiben können, doch sie entschieden sich für die „leichte Muse“. Tatsächlich repräsentierten sie die Zukunft der Musik, nicht der „Zukunftsmusiker“ Wagner.

Der Wagnerismus stieß in den nächsten Generationen an seine Grenzen – und zunehmend auf Akzentanzprobleme. Was sollte nach der Überspanntheit von „Tristan und Isolde“ und der Langeweile von „Parsifal“ noch kommen? Richard Strauss fand für sich eine Lösung: Er steigerte den „Ausdruck“ bis zum Exzeß, bis zum buchstäblichen Expressionismus. Dann trat er den Rückzug an, wurde wieder konventioneller und machte bis zu seinem Tod Musik, nicht nur für die Oper, die allgemein noch akzeptabel, oft sogar „schön“ war. Seine späten Werke, Solokonzerte, „Vier letzte Lieder“ und andere, klingen nostalgisch, wie Abgesänge auf frühere, bessere Zeiten. Pfitzner, der ebenfalls 1949 starb, ist zeitlebens ein später Romantiker geblieben. Doch andere, die nach Wagner nicht weiterwußten, machten aus der Musik ein Spielfeld für schräge Versuchsanordnungen: Sie verfielen auf „Zwölftonmusik“ und noch fragwürdigere Geräuschinszenierungen, die ins Abseits führten.

Die „Klassik“, zu Zeiten von „Zauberflöte“ und „Freischütz“ noch vom ganzen Volk verstanden und geliebt, hat ihr Publikum abgehängt. Selbst die Operette gibt es nicht mehr, obwohl sie eine zeitlang über den Tod der großen Schwester hinwegtrösten konnte. Aber aus ihren Resten, aus Revuen, Varieté und Karnevalsgesang, ist die heutige Unterhaltungsbranche herausgewachsen. Musical, Schlager und Popmusik sind Nachkommen der Operette, die selber ursprünglich ein leicht verdaulicher Seitenzweig der Oper war. Insofern hat die von der Strauß-Familie eingeschlagene Richtung gewonnen. Seither ist Unterhaltungsmusik immer flacher geworden, aber sie lebt noch. Die Klassik dagegen, von Wagner und seinen Nachfolgern auf einen abschüssigen Weg geschickt, ist zugrunde gegangen – erstickt an ihrem Anspruch, „ernste Musik“ sein zu müssen.

War diese Entwicklung zwangsläufig? Mußte es unvermeidlich so weit kommen, daß heute niemand mehr anspruchsvolle, doch verständliche, genießbare Musik schreibt? Hätte man die Entwicklung an irgend einem Punkt stoppen und einfach immer so weitermachen können wie Schumann oder Brahms? Tatsächlich geschieht das, nämlich in der Filmmusik. Epische Filme sind häufig mit Musik unterlegt, die an Bruckner oder andere „Klassiker“ erinnert. Aber die Musik ist hier nur eine Begleiterscheinung, nicht die eigentliche Attraktion. Filmmusik von Ennio Morricone hat sich auf Schallplatten verkaufen lassen, doch das ist eher die Ausnahme, und es gehört auch schon wieder der Vergangenheit an. Eine Neo-Klassik, neue Werke im Stile von Mozart oder der Romantik – so etwas ist schwer vorstellbar. Es würde uns wie Nachahmung oder Fälschung vorkommen, vermutlich würde es nicht angenommen werden. Ist auch nicht nötig, denn wir haben ja einen riesigen Fundus an echter Klassik. Das ist unser europäischer Kulturschatz, den wir hüten und pflegen sollten. Daß er nicht mehr wachsen kann, mag man bedauern. Es ist aber zu verkraften, wenn man bedenkt, daß nur in Europa überhaupt eine wertvolle Musikkultur entstanden ist. Wir dürfen stolz zurückblicken und wollen nun sehen, wie alles angefangen hat.

Europäische Klassik – eine christliche Musikkultur?

Bevor wir zur Komponisten-Chronologie kommen, die oben angekün­digt ist, muß ich auf den eigentlichen Anstoß zu diesem musikgeschichtlichen Abriß zu sprechen kommen: Europa wird angegriffen, ist kulturell bedroht. Kulturfeindliche, insbesondere auch musikfeindliche Barbaren sind in unseren Kulturraum eingefallen. Gottesanbeterei ist tendenziell immer geist- und kulturfeindlich, engstirnig gegen alles gerichtet, was schön ist oder Spaß machen könnte. Wo es nur noch einen Gott gibt, hat sich überall der böseste, kriegerischste, menschenverachtendste durchgesetzt. Man darf nicht nur sehen, was in den eigentlichen „Schriften“ steht, in den beiden Teilen der Bibel und im Koran. Wichtiger, weil mächtiger für die Auslegung und die praktische Wirkung auf das Leben der (Zwangs-)Gläubigen, sind die Schriften der sogenannten Kirchenväter bzw. die islamischen Hadithen.

Wenn wir bei den „Heiligen“ Ambrosius, Hieronymus und Augustinus nachlesen, finden wir ein paar banale Aphorismen, die sich als universelle Lebensweisheiten eingegraben haben, aber vor allem Bildungsfeindlichkeit, Angstpropaganda und ein sehr negatives Menschenbild. Der Mensch ist eine „erbarmungswürdige Kreatur, von Natur aus grundsätzlich verdorben, vom Aufruhr des Fleisches“ zum Sünder verdammt, der in der Hölle schmoren wird (Augustinus, „Der Gottesstaat“). „Wir müssen die Welt fliehen, weil sie der Sitz der Bosheit ist“ (Ambrosius, „De fuga saeculi“), und Erzbischof Eucherius von Lyon († 450) ergänzt, die Welt und alle weltliche Bildung seien zu verachten. Ähnliche Verächtlichmachung von Bildung, auch von Frauen übrigens, findet man im 1. Jahrhundert schon bei Paulus, dessen Texte sogar Bestandteile des Neuen Testaments sind. Das sind Lehren, die zu Intoleranz, Moralismus, Weltuntergangsphantasien, Hexenverfolgung und Judenhaß geführt haben. Und zum Verbot von Wissenschaft, Musik, Theater und Literatur. Nur noch Geistliche sollten Lesen und Schreiben lernen, und nur noch zu Gott durfte gesungen werden. Bevor die Römer Christen wurden, hatten die meisten Bürger lesen und schreiben können. Diese Kirchenpolitik der absichtlichen Verblödung räumte der neuen Konkurrenz einen unschätzbaren Wettbewerbsvorteil ein: Während das Christentum die Bildung der Antike bekämpfte, weil sie mit dem römischen „Heidentum“ verbunden war, nahmen Mohammeds Nachfolger einige Bildungsgüter der eroberten oströmischen Gebiete auf. Damit konnte der Islam für einige Jahrhunderte vortäuschen, „kultiviert“ zu sein, in manchen Bereichen – Nautik, Medizin, Literatur – offener und fortschrittlicher als das verdummende christliche Europa.

Den Kirchenvätern folgend, war Musik – als etwas Schönes, Gemeinschaft Stiftendes, den Menschen Erhebendes – verboten. Eigentlich. Zum Glück war wenigstens Kirchenmusik erlaubt, die gemeinsame sangliche Glaubensbekundung. Und der zweite glückliche Umstand: Es waren die Römer, die diese asiatische, vom Judentum abtrünnige Sekte, das Christentum, hereingelassen und zur Staatsreligion gemacht haben. Von Italien aus wurde der Katholizismus jahrhundertelang beherrscht und in den Rest Europas ausgesandt. Zu unserem kulturellen Glück sind die Italiener ein genußsüchtiges, sentimentales, anarchisches Volk. So konnte es zu barbarischen Alkohol- und Tabakverboten gar nicht erst kommen, und das zivile Singen ließ sich auf die Dauer auch nicht unter­drücken. Allerdings muß sich eine höhere Musikkultur, die ein Zusammenspiel von Stimmen und mehreren Instrumenten möglich macht, überhaupt erst entwickeln. Es ist, auch mangels einer brauchbaren Notationsweise, nicht viel Musik aus der Antike überliefert, aber das Wenige läßt vermuten, daß die Griechen und Römer keine große Musikkultur hatten, auf die man hätte aufbauen können. Von den Kelten und Germanen wissen wir in dieser Richtung gar nichts. Bei den Indianern, Afrikanern und eingeborenen Australiern sehen wir, daß sich eine höhere Musik durchaus nicht zwangsläufig entwickelt.

Befreiung der Musik von kirchlicher Vormundschaft

Es brauchte die Renaissance und die Reformation, den ersten großen Befreiungsschritt vor der Aufklärung, um das Monopol der katholischen Kirche zu brechen und endlich die musikalischen Vorschriften wenigstens teilweise auszuhebeln. Aus der Kirchenmusik entwickelten sich Madrigale, die klangen wie religiöser Gesang, aber weltliche Texte hatten. Und dann kam, kurz vor 1600, die Idee, das antike Theater wiederzubeleben. Manche der ersten Opern wirken wie Aneinanderreihungen von Madrigalen. Ein anderer Strang, der vom kirchlichen Zeremoniell zu weltlicher Musik führte, war die Entwicklung des Oratoriums aus dem Geist mittelalterlicher Passionsspiele. Das Oratorium legt zunächst nur Bibeltexte zugrunde, und es verzichtet fast ganz auf bildliche Inszenierung. Dabei konnte auch ein Bach mitgehen. Bei Händel blieb das Oratorium dann allerdings schon nicht mehr auf eminent christliche Geschichten beschränkt, sondern wurde zu einer Oper, bei der man Kostüm- und Kulissenkosten einsparen konnte. Als Händel von der Oper auf das Oratorium umstieg, auch weil das Londoner Operngeschäft sich totlief, hatte das noch einen zweiten Vorteil: Durch den formalen Genrewechsel war er nicht mehr an die Regeln der italienischen opera seria gebunden; er konnte dem Publikum entgegen­kommen und in englischer Sprache singen lassen.



Abbildung: Farinelli (eigtl. Carlo Broschi, 1705 - 1782) im Jahr 1735. Der be­rühm­teste von al­len Ka­stra­ten­sän­gern hielt sich kaum mit Kir­chen­mu­sik auf, son­dern mach­te Kar­rie­re als Opern-„Pri­ma­don­na“ in al­len wich­ti­gen Mu­sik­städ­ten Eu­ro­pas: Nea­pel, Rom, Mai­land, Ve­ne­dig, Mün­chen, Wien, Lon­don, Pa­ris. Zu­letzt sang er 25 Jah­re in Mad­rid, ab 1760 setz­te er sich als rei­cher Mann in Bo­logna zur Ru­he.

Ein musikalisches Problem des 17. Jahrhunderts war, daß Frauen immer noch nicht öffentlich auftreten, erst recht nicht singen durften, schon gar nicht in „sittenloser“ (Theater-)Umgebung – moralisches Interdikt aus Rom! Orpheus ohne Eurydike? Nur Stücke spielen, in denen ausschließlich Männerrollen vorkommen? Wir kennen diese Klemme auch von Shakespeare, der eine männliche Julia in Frauenkleider stecken mußte. Was dieses heikle Thema betraf, konnte man von der vatikanischen Kapelle lernen: Der Papst ließ für seine Kirchenmusik, da weibliche Stimmen erwünscht, aber Frauen nicht zugelassen waren, einfach Jungen vor dem Stimmbruch kastrieren, damit sie ihre helle Kinderstimme behielten und als Erwachsene die „weiblichen“ Parts singen konnten. Das hört sich aus heutiger Sicht brutal an, stellte aber die Versorgung der Familien solcher Sängerknaben einigermaßen sicher. Und was tut man nicht alles für die hehre Kunst bzw. zur höheren Ehre Gottes?

Das Prinzip ließ sich wunderbar auf die Bühne übertragen, um mit dem Frauenbann fertigzuwerden: Manche Kinderdarsteller wurden, wenn sie schön singen konnten, rechtzeitig entmannt, damit das so blieb. Andere „Sängerknaben“ stießen zur Oper, wenn sie beim Kirchenchor nicht mehr gebraucht wurden. Als Kontratenöre oder Kontraaltisten waren Kastraten bald die Superstars der barocken Opernszene. Das ging so weit, daß viele Opern nur noch Rollen für Frauenstimmen enthielten, weil man meinte, weiblicher Gesang klänge einfach schöner als männliche Stimmen. Als endlich richtige Frauen mitspielen durften, übernahmen Kastraten die Männerrollen, und die weiblichen Figuren wurden von echten Frauen gesungen. Wenn Männer als Frauen verkleidet Sopran sangen, warum dann nicht auch in Hosenrollen? Man hatte sich an merkwürdige Travestien gewöhnt.

Noch Glucks erste Reform-Oper, „Orpheus und Eurydike“ (1762), sah in der italienischen Originalfassung nur drei weibliche Stimmen vor: Orpheus (Alt, also Kastrat), Eurydike (Sopran) und den Liebesgott Amor (Sopran). Für die Pariser Erstaufführung wurde ins Französische übersetzt, ein paar dramaturgisch überflüssige Tänze eingefügt – und die Orpheus-Rolle einem Tenor zugewiesen. Kastraten und ihr Gesang wurden in Frankreich traditionell abgelehnt. Napoleon beging bald nach der Machtergreifung eine seiner wenigen „menschlichen“ Taten: Er ließ die Kastration von Sängerknaben verbieten. Rossini bedauerte das – der Oper sei viel Virtuosität verloren­gegangen, und die Gesangskultur habe ohne die Bravour der Kastraten einen allgemeinen Verfall erlebt. Nach „Wilhelm Tell“ (1829) zog er sich mit 37 Jahren, nach 39 Opern, aus dem Theaterleben zurück. Er lebte noch vier Jahrzehnte, schrieb aber keine einzige Oper mehr.

Zusammenfassend kann man sagen, die Kirche hat mit christlichem Chorgesang den Grundstein zu einer höheren Musikkultur gelegt, dann aber fast 1000 Jahre lang verhindert, daß sie sich entfalten konnte. Mit dem Einsetzen der Renaissance verlor die Kirche die Kontrolle, auch weil die vergnügungssüchtigen Borgia- und Medici-Päpste selber ein sinnenfrohes „Lotterleben“ mit Musik und Tanz pflegten. Und das oben angesprochene italienische Temperament wurde mit der Renaissance erst so richtig freigesetzt. Gegen solche Verweltlichung wandten sich nach 1500 protestantische Richtungen, die darauf drangen, religiöse Vorschriften im allgemeinen und Musikverbote im besonderen wieder ernst zu nehmen. Aber selbst Martin Luther befürwortete Spiel und Gesang, nach dem eher unchristlichen Motto: „Wer schaffen will, muß fröhlich sein.“ Der Weg zur europäischen Klassik war freigekämpft. Renaissance, Aufklärung und pure Menschlichkeit haben der Religion ihre bösartige Verbotsmacht aus der Hand geschlagen, wenigstens im Bereich der Musik und der übrigen Künste. Für sie alle bleibt die Kirche ein wichtiger Auftraggeber, einer unter mehreren, aber die Vormundschaft, das Inquisitionsrecht – das hat sie im 18. Jahrhundert endlich verloren.

Klassische Musik versus kulturelle Barbarei

Wie wäre es aber geworden, wenn der Islam im 8. Jahrhundert von Spanien aus über ganz Europa gekommen wäre? Oder wenn die Osmanen nach der Eroberung von Konstantinopel (1453) noch viel weiter, über den Balkan hinaus, vorgestoßen wären? Es ist natürlich unmöglich zu sagen, ob nicht vielleicht trotzdem eine Musikkultur entstanden wäre, immerhin haben wir ja die Italiener und unsere eigene Musikalität. Man kann nicht ganz ausschließen, daß in Europa ein anderer, weniger beschränkter Islam gewachsen wäre, oder daß wir ihn überwunden hätten, wie wir letztlich das Christentum überwunden haben. Aber schauen wir dahin, wo der Islam in Reinkultur, nach koranischen und hadithischen Vorschriften praktiziert wird: Nach Afghanistan, in den „Islamischen Staat“, nach Saudi-Arabien, Jemen, Katar usw.: Musik ist streng verboten, oder sie war es bis vor kurzem noch. Filme sind verboten, weil in ihnen Musik vorkommt. Selbst wenn Musik nicht verboten wäre, könnten musikalische Darbietungen nicht stattfinden, weil Frauen nicht teilnehmen dürften, weder als Musikerinnen noch als Publikum. In einem solchen Umfeld ist Kultur in einem Sinne, der nicht nur „Zivilisation“ meint, unmöglich. Das erklärt, warum es eine islamische Musikkultur nicht gibt, gar nicht geben kann. Die Römer haben Völker, die ja auch nicht mehr auf Bäumen lebten, sondern irgendeine Art der Zivilisation hatten, mit Recht Barbaren genannt, weil sie weniger kultiviert waren, zum Beispiel keine Schriftkultur besaßen. Auf heutige Verhältnisse übertragen, muß man eine Zivilisation, die Musik und andere Kultur verbietet, die Frauen vom Leben ausschließt, barbarisch nennen. Von dieser Art Barbarei ist unsere Musik, unsere ganze europäische Kultur bedroht.



Abbildung: Leyla Gencer (1928 - 2008). Eine tür­ki­sche Sopra­ni­stin, die von der glei­chen Ge­sangs­leh­re­rin wie Ma­ria Cal­las aus­ge­bil­det wur­de und mit fast al­len gro­ßen Kol­le­gen und Di­ri­gen­ten zu­sam­men­ge­ar­bei­tet hat. Lei­der gibt es von ihr kei­ne Stu­dio-Plat­ten­auf­nah­men, nur Live-Mit­schnit­te, die aber trotz­dem ihre groß­ar­ti­ge Stim­me ei­ni­germa­ßen do­ku­men­tie­ren.

Vor einigen Jahren hat unser politisches System, das nach dem Prinzip funktioniert, immer die Ungeeignetsten, Unbegabtesten in hohe Positionen zu bringen, eine Türkin namens Aydan Özoguz in das Amt einer „Integrationsbeauftragten“ gespült. Diese Frau Özoguz hat sich 2017 damit vernehmen lassen, eine spezifisch deutsche Kultur sei, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar. Die Integrationsdame ist selber so fabelhaft in die deutsche Kultur integriert, daß sie offenbar Beethoven für die Unterart eines Bernhardiners und Mozart für eine Schokoladenpraline hält. Falls sie denn die Namen überhaupt schon mal gehört hätte. Mozart und Beethoven sind Kultur, Frau Özoguz, deutsche Kultur. Oder reden wir von Richard Wagner, Frau Özoguz, noch einem Opernfritzen. Mögen die anderen Leser mir im voraus einen gewissen Zynismus verzeihen: Geht’s noch deutscher, noch kulturspezifischer, noch mehr „jenseits der Sprache“? Der Mann soll immerhin den Antisemitismus erfunden und Adolf Hitler persönlich die Idee zum Holocaust eingeflüstert haben. Und das, obwohl er schon 6 Jahre tot war, als Hitler geboren wurde. Wenn das mal keine spezifisch deutsche „kulturelle Leistung“ ist!

Nicht wahr, Frau Özoguz, Sie verbinden mit Deutschland kulturell nichts anderes, als daß sie Nazis waren. Wenigstens die sind spezifisch deutsch, quasi mit Allein­vertretungs­anspruch. Damit Sie hier mal etwas über Integration lernen, Frau Özoguz: Der Fall Beethoven zeigt, daß aus Menschen mit „Migrationshintergrund“ sehr gute Deutsche werden können. Noch ein Beispiel, etwas anders gelagert: Schon mal von Leyla Gencer gehört? Vermutlich nicht, denn sie hatte mit Kultur zu tun, was ja nicht Ihre starke Seite ist. Ich kläre Sie auf: Die Frau hat bewiesen, daß man aus prekären kulturellen Gegenden stammen und dennoch eine großartige Musikerin, ein richtiger Kulturmensch werden kann. Glauben Sie mir: Frau Gencer wußte, daß Beethoven Deutscher war. Sie hätte sich von Ihnen distanzieren müssen.

Dieser Beitrag ist Aydan Özoguz gewidmet. Sie muß zuerst einmal in die deutsche Kultur ’reinschnuppern. Das ganze Universum der europäischen Musik würde sie kulturell überfordern, deshalb ziehe ich das hier ein bißchen „deutschnational“ auf und kümmere mich für’s erste nur um deutsche Komponisten – und nur um die zwanzig größten, damit es nicht gleich zuviel wird für ihre Bereitschaft, deutsche Kultur kennenzulernen. Wenn sie in einigen Jahren mal danach gefragt wird und wenigstens diese zwanzig nennen kann, wird vielleicht irgendwann der Ruf verstummen, sie solle sich zurück nach Anatolien scheren.

 

Anmerkungen:

  1. siehe John Warrack, „Carl Maria von Weber“, S. 415 f.  |  zurück zum Text

  2. E.M. Arndt, zitiert nach G. Sichelschmidt, „Ernst Moritz Arndt“, S. 42  |  zurück zum Text

  3. Bis 1806, dem Ende des Hl. Röm. Reichs, sind alle Österreicher – wie Sachsen, Bayern und Preußen – Deutsche, und kulturell sind sie es ja, trotz staatlicher Trennung, bis heute geblieben. Die Hauptstadt des Deutschen Reichs war, seit die Habsburger fast durchgehend den deutschen König und Kaiser stellten, also vom Ende des Mittelalters bis 1806, Wien.  |  zurück zum Text

  4. Kirchenväter zitiert nach Rolf Bergmeier, „Schatten über Europa – Der Untergang der antiken Kultur“, S. 102 - 107  |  zurück zum Text


Der nachfolgende knappe, vierseitige Überblick über die 20 bedeutendsten deutschen Komponisten der Musikgeschichte – man könnte natürlich über die Auswahl streiten, aber das ist meine – war ursprünglich als PDF-Beilage zu einer kulturpädagogischen Musik-CD gedacht, die für jeden aufgeführten Komponisten ein paar Musikbeispiele zu den im Text genannten Musikgattungen enthielt. Das Material, PDF-Text und CD, diente tatsächlich, wie in der „Ansprache an Frau Özoguz“ angedeutet, einem Exkurs zur deutschen (und europäischen) Musikkultur im Rahmen eines Integrationssprachkurses (Deutsch als Fremdsprache, Niveau C1).

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Autor: Mayerlingk
Datum: 08.2022