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Der „Fall Wagner“ des Friedrich Nietzsche
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Der „Fall Wagner“ des Friedrich Nietzsche   heute: Mittwoch, 11.12.2024

Musikgeschichte:  Am Rande des Wahnsinns

Wagner und Nietzsche

„Der Fall Wagner“ ist das letzte Werk Friedrich Nietzsches, das er 1888 noch selber veröffentlichen konnte, ehe er der geistigen Umnachtung anheim fiel. Es ist eine wüste Abrechnung mit dem Komponisten und Menschen Richard Wagner, der zuvor sein väterlicher Freund, aber auch sein künstlerischer Leitstern gewesen war. Verehrung war in blanken Haß umgeschlagen. Es stellt sich bis heute die Frage, ob das hauptsächlich an Wagners „Antisemitismus“ lag, oder ob nicht vor allem Eifersucht und Neid Nietzsche bald nach Wagners Tod zu seiner Tirade getrieben haben.

„Der Fall Wag­ner“ ist das letz­te Werk Fried­rich Nietz­sches, das er 1888 noch sel­ber veröf­fent­lichen konn­te, ehe er der gei­sti­gen Um­nach­tung an­heim fiel. Es ist ei­ne wüste Ab­rech­nung mit dem Kom­po­nisten und Men­schen Ri­chard Wag­ner, der zuvor sein vä­ter­li­cher Freund, aber auch sein künst­le­ri­scher Leit­stern ge­we­sen war. Ver­eh­rung war in blan­ken Haß um­ge­schla­gen. Es stellt sich bis heu­te die Fra­ge, ob das haupt­säch­lich an Wag­ners „Anti­semi­tis­mus“ lag, oder ob nicht vor al­lem Ei­fer­sucht und Neid Nietz­sche bald nach Wag­ners Tod zu sei­ner Ti­ra­de ge­trie­ben ha­ben.



Abbildung: Friedrich Nietzsche (1844 - 1900)

Der Autor des „Zarathustra“, der Philosoph Nietzsche, hat auch komponiert. Musikgeschichtlich interessanter als sein schmales kompositorisches Werk ist aber die legendäre Freundschaft mit Richard Wagner, die 1876/77 in eine haßerfüllte, abgrundtiefe Feindschaft umschlug. Der Wechsel im persönlichen Verhältnis zwang Nietzsche, in seinen musiktheoretischen Überlegungen eine hundertprozentige Kehrtwende zu vollziehen, die aus heutiger Sicht unglaubwürdig, ja lächerlich wirkt: Vom Verehrer und eifrigsten Verkünder des wagner’schen Musikideals zum Apologeten französischer Opernsüßlichkeit. Mehr noch: Nietzsche verkehrte sogar seine politischen und kulturphilosophischen Ansichten ins Gegenteil, nur um gegen Wagner verwenden zu können, was sie beide vorher verbunden hatte.

Richard Wagner war erfüllt von nationalem Sendungsbewußtsein – als Künstler, der sich seine Opernstoffe in der deutschen Heldenepik suchte, wie als politischer Mensch, der 1848 für die demokratische Selbstbestimmung des Volkes und gegen kleinstaaterische Fürstenwillkür mitgekämpft hatte. Weiter ist bekannt, daß er zumindest theoretisch ein Antisemit war, der sich öffentlich über das „Judentum in der Musik“ verbreitet hatte, der allerdings praktisch sehr wohl mit jüdischen Dirigenten und anderen Künstlern zusammenarbeitete. Abgesehen von Nietzsches Ehrfurcht vor Wagners Musik, waren es genau diese zwei Aspekte, der nationale Standpunkt und der Antisemitismus nämlich, mit denen Nietzsche am Anfang der Bekanntschaft vollkommen übereinstimmte. Der angehende Altphilologie-Professor war 1868 gerade so judenfeindlich und national gesonnen wie der väterliche Freund, nur nicht mit dessen weltmännischer Nonchalance, sondern verbissener.



Abbildung: Cosima Wagner (1837 - 1930)

Aus Gründen, die sich trotz der Überlieferung des Briefverkehrs nicht nachvollziehen lassen, muß Nietzsche sich von einem bestimmten Punkt an persönlich zurückgesetzt gefühlt haben. In der organisatorischen Arbeit, welche die bevorstehende Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses mit sich brachte, scheint Wagner nicht genug Zeit für die Zuwendungsbedürfnisse des empfindlichen Freundes gefunden zu haben. Zudem beanspruchte Nietzsche, der treueste Herold wagner’scher Größe, als der er sich wohl empfand, einen ständigen Ehrenplatz neben dem Meister. Noch kam erschwerend hinzu, daß dieser Herold seit Jahren in Wagners Frau Cosima verliebt war, der er seine musikalischen Versuche widmete, ohne daß sie ihn so erhört hätte, wie er es sich wünschte. Schließlich reichte seine Treue nicht aus, diese inneren Konflikte auszuhalten und zu überstehen. Erst wandte er sich von Wagner ab, dann lief er Amok gegen ihn.

Von nun an bis zum Tode Wagners 1883 bekämpfte der verklemmte Sonderling sein früheres Idol mit allen Mitteln. Er stieß ihn von dem Thron, auf den er den „Herrscher der Musik“ zuvor selber gehoben hatte, und setzte Georges Bizet, den Schöpfer der „Carmen“, an seine Stelle. Der Franzose mußte jetzt der Erlöser sein – was viel verlangt war von einem Komponisten, der schon vor ein paar Jahren gestorben und von dem also kaum noch etwas zu erwarten war. Als Nietzsche das einsehen mußte, protegierte er einen ganz und gar untauglichen jungen Komponisten namens Peter Gast, wollte ihn zum Konkurrenten seines Feindes aufbauen. Was er erreichte, war, den Gehilfen seiner Rache lächerlich zu machen. Während all der Versuche, den Ruf Wagners zu schädigen, war er panisch darauf bedacht, ihm nicht mehr persönlich zu begegnen. Fünf Jahre nach Wagners Tod unternahm Nietzsche, bevor er für die restlichen 11 Jahre seines Lebens in Geisteskrankheit versank, einen letzten Versuch, dem Rivalen das Ansehen und die Ehre abzuschneiden: Er veröffentliche eine Schrift mit dem Titel „Der Fall Wagner – Ein Musikantenproblem“. Darin stellte er Richard Wagner als Wahnsinnigen, als egomanischen Kunsttyrannen hin.



Abbildung: Richard Wagner (1813 - 1883)

Die Geschichte von Nietzsches Privatkrieg gegen den ehemaligen Freund wirft, abseits vom Musikgeschichtlichen, einen erhellenden Schein auf die „Erkenntnisse“ des Philosophen. Er mußte, um Wagner Antisemitismus vorhalten zu können, sich selber davon befreien. Er, der sich noch 1870/71 freiwillig zum Militär gemeldet hatte, als es gegen die Franzosen ging, mußte zum Franzosenfreund, zu einem übernationalen Kosmopoliten werden, dem nun die Augen aufgehen konnten für alle vermeintlichen Schwachpunkte des Deutschtums. Und es geht weiter: Einmal bei kritischen Betrachtungen über das einst glorifizierte Vaterland angekommen, heißt es bei ihm bald, es müsse schlecht sein, was deutsch sei, eben weil es deutsch ist. Nietzsche bringt jetzt wahre Blüten argumentativen Wahnsinns hervor: Es zeige die Minderwertigkeit des deutschen Geistes, daß man versuche, durch ein relativ pluralistisches, idealistisches Schulsystem möglichst viele Menschen an den Bildungsgütern teilhaben zu lassen. Besser sei das elitäre angelsächsische System, weil es die Menschen von vornherein so einteile, wie es ihrer Natur entspreche: in Herren und Knechte. Und das alles nur, um sich von Wagners Deutschtum abzugrenzen!

Der „Fall Wagner“ ist nur eines von vielen Erlebnissen, die sich massiv in Nietzsches „Philosophie“ niedergeschlagen haben. Angefangen vom frühen Tod des Vaters, der noch nicht 40-jährig an Gehirnerweichung zugrunde ging, über die darauf folgende „Unterdrückung“ durch Mutter und Schwester bis hin zu seinem anhaltenden Mißerfolg bei Frauen, war das Leben für ihn eine einzige Abfolge von Kränkungen, Enttäuschungen, Demütigungen. Daß Nietzsche allen anderen Menschen geistig überlegen war, spiegelte sich nicht in seinen Lebensverhältnissen wider. Das Schicksal enthielt ihm vor, was ihm doch zugestanden hätte: menschliche Liebe, respektvolle Anerkennung, dauerhaft ergebene Anhängerschaft. Der „Fall Wagner“ war von Anfang an ein „Fall Nietzsche“ gewesen.

 


Autor: Schmitz
Datum: 10.2021